Martin Hecht: Die Einsamkeit des modernen Menschen

Seit 20218 haben die Briten ein Einsamkeitsministerium. Untersuchungen zur Einsamkeit gibt es mehr als genug. Fast scheint die Einsamkeit eine Art Volkskrankheit geworden zu sein. Dazu passt das Buch Die Einsamkeit des modernen Menschen von Martin Hecht auf den ersten Blick. Doch Hecht geht es nicht um die Beschreibung, sondern um die Historie und Bedeutung der Einsamkeit in der heutigen Zeit. Warum fühlen sich heute so viele Menschen einsam, und was hat das verursacht? Was sind die Konsequenzen? Der Untertitel deutet eine politische Interpretation an, tatsächlich geht es um politische Folgen eher am Rande, als Auswirkung und Nebeneffekt. Das eigentliche Stichwort ist die Individualisierung, die in der Renaissance mit der Hinwendung zu Vernunft und Eigenverantwortlichkeit begann. Die Wichtigkeit, ein Individuum zu sein, ein eigenständiges und unabhängiges Dasein zu führen, entstand erst mit der Industrialisierung und Urbanisierung. Doch das Loslassen von Traditionen und Institutionen hatte seinen Preis. Den Verlust der familiären und sozialen Bindungen, die dem individuellen Lebensstil entgegen standen. Mit der bitteren Konsequenz, dass die eigene Rolle und Bedeutung unklar und nebulös wurden. Daraus, so Hecht, entstand das Bedürfnis, wieder eine Sichtbarkeit, ein Gesehenwerden zu erreichen, Respekt und Aufmerksamkeit zu bekommen. Kein leichtes Unterfangen in der heutigen Zeit, wo Bedeutung und gesellschaftliche Position an Klicks, Likes und Shares gemessen werden. Selbst das Medium, das Eigenständigkeit, weltweiten Austausch plus Liberalität versprach, wo sich jeder präsentieren kann, das Internet, hat es nur verschlimmert. Mit der Folge, dass sich Menschen aus ihrer gefühlten oder tatsächlichen Bedeutungslosigkeit und Unsichtbarkeit radikalen und populistischen Gruppierungen anschließen. Die ihnen versprechen, ihnen wieder eine Stimme und einen Wert zu geben.

Martin HechtWDR 5 «Neugier genügt»

Heute stehen Individualität und Einzigartigkeit ganz weit oben auf der Bedürfnispyramide. Jeder will etwas Besonderes sein und so gesehen werden. Doch der Plan scheiterte. Eben weil der Einzelne sich nicht mehr gesehen, wahrgenommen und wert geschätzt fühlt. Doch waren es früher die Beziehungen im Dorf, die Traditionen und gesellschaftlichen Regeln, die die persönliche Einmaligkeit einschränkten. Mit dem Aufgeben dieser traditionellen Verbindung kam die Einsamkeit. Jeder sollte nun etwas Besonderes, Unverwechselbares sein, die Begriffe individuell und authentisch wurden wichtig. Gelandet sind wir dort, wo wir anders wieder genau so eingepfercht sind. Konsum richtet sich nach den Nutzerkommentaren in den Onlineshops, Unternehmen versprechen, mit ihrer Zahnpasta und ihrem T-Shirt etwas Unverwechselbares zu werden, der Glaube, es sei heute einfach geworden, individuell und einmalig zu sein, ist ein Trugschluss. Die Konsequenzen sind vielfältig. Die Einsamkeit, der Verlust des wirklichen Selbst, ruft Hass, Neid und Intoleranz auf den Plan, von dem Populisten profitieren. Das Internet wurde zu einem Sumpf von Beschimpfungen, Verschwörungstheorien und Falschinformationen. Wo doch Anderes angekündigt war. War es doch gerade der Kapitalismus, der ein besseres Dasein versprach. Dazu den hohen Wert jeden Individuums. Jeder nach seinem Geschmack, jeder nach seiner Coleur.

So gesehen ist die Dominanz der AfD gerade in der ehemaligen DDR nicht überraschend. Die Versprechungen von sozialem Aufstieg, Wohlstand und Freiheit haben sich als hohle Sprüche heraus gestellt. Stattdessen herrscht Einsamkeit, Leere und Verschwinden aus der Gesellschaft. Die Folgen sind politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Abstieg. Die Einsamkeit, der Bedeutungsverlust, als Gefahr, weil innere Verletzung und Herabwürdigung zum Alltag werden. In diesem Sinne ist am Rechtspopulismus in den östlichen Ländern nach der Wiedervereinigung aus Enttäuschung schon ein Körnchen Wahrheit.

Hechts Sicht auf die Einsamkeit, mit philosophischem und psychologischen Hintergrund, machen diesen abstrakten Begriff deutlicher. Seine Geschichte, seine Auswirkungen und seine Folgen für den Einzelnen. Leider verzettelt sich Hecht immer wieder in der breiten Auslegung, er springt zwischen den Aspekten hin und her, eine Linie, eine Geschichte, wird nicht gezeigt. Das ist schade, denn seine Ansätze sind durchaus richtig und wichtig. Man muss sich jedoch die Fäden selbst zusammen spinnen, ein ständiges Rekapitulieren und Zusammenlegen der Gedanken ist schon innerhalb eines einzelnen Kapitels immer wieder notwendig. Hätte Martin Hecht es geschafft, die Zusammenhänge deutlicher und klarer in eine Gesamtsicht zu bringen, wäre das Buch erheblich lesbarer und gewinnbringender.

Martin Hecht wuchs in Rottweil am Neckar auf. Nach seinem Zivildienst als Rettungssanitäter studierte er ab dem Wintersemester 1986/87 an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg im Breisgau Politikwissenschaften, neuere Geschichte und Soziologie. Von Oktober 1991 bis Juni 1992 war er DAAD-Stipendiat an der City University London und erwarb sich mit einer Arbeit zu „The Ideology of Nationalism in Television News“ den Grad eines englischen „Master of Arts“ im Studiengang „Communications Policy Studies“. 1993 schloss er sein Studium in Freiburg mit dem „Magister Artium“ ab. Als Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung promovierte er anschließend bei Wilhelm Hennis mit einer Dissertation über den Freiheitsbegriff bei Max Weber, Alexis de Tocqueville und Jean-Jacques Rousseau. Während seines Studiums hospitierte Martin Hecht bei der Tag/Traum-Filmproduktion Köln, beim ZDF in den Redaktionen „Das kleine Fernsehspiel“ und „heute journal“ in Mainz, im ZDF-Studio London und in der Nachrichtenredaktion des NDR in Hamburg. Von 1996 bis 1998 war er Redaktionsvolontär beim Südwestrundfunk in Baden-Baden, Stuttgart und London – und arbeitete danach als Reporter beim Fernsehen für den SWR und die ARD. Nach der Geburt seines Sohnes ging er 2002 in Elternzeit. Seit vielen Jahren schreibt er frei unter anderem für DIE ZEIT, Gehirn und Geist, Spiegel online, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung und Psychologie Heute. Er ist regelmäßiger Autor von Hörfunk-Features für SWR 2 Kultur.. (Wikipedia.de)

 

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