Armin Schäfer/Michael Zürn: Die demokratische Regression

Nach dem Zusammenbruch des Ostblocks wuchs weltweit die Anzahl liberaler Demokratien. Das waren die ehemaligen Staaten der Sowjetunion, aber auch deren Satelliten wie Ungarn und Polen. Seit dem Jahrhundertwechsel schrumpft diese Zahl wieder. In Ungarn und Polen, aber auch in Indien und den USA, kommen populistische, sogar autoritäre Regierungen und Politiker an die Macht. In Deutschland hat die AfD einen stabilen Wählerstamm von ca. 10%. Der Populismus ist also ein weltweites Phänomen, kein deutsches, nicht mal ein europäisches. Für die Erklärung dieser Entwicklungen werden gerne ökonomische oder kulturelle Entwicklungen genutzt. Die Politik als Ursache wird dagegen gerne ignoriert. Die Autoren dieses Buches gehen einem anderen Ansatz nach, der die Politik einbezieht, ja sogar als hauptsächliche Ursache identifiziert. Warum wenden sich Menschen nicht nur von der Politik ab, sondern sogar von der Rationalität, von Fakten und der Wissenschaft, entziehen sich konstruktiven Diskursen unter lautem Gezeter? Die Antwort ist nicht trivial. Aber politisch lehrreich.

Armin Schäfer und Michael Zürn haben plausible, belegbare und handfeste Daten, Fakten und Statistiken. Dazu liefern sie eine präzise Analyse der politischen Entwicklung, die verblüffende Erkenntnisse parat hält. Leider hat das Buch auch Schwächen. Es ist ein Sachbuch, keine wissenschaftliche Arbeit im eigentlichen Sinne, kommt Letzterem aber sehr nahe. Das Fremdwörterbuch des Dudens sollte für Nichtfachleute in Reichweite liegen. Statistische Diagramme sollte man lesen und interpretieren können. Lässt man sich darauf ein, und es wird wirklich Arbeit, dieses eher überschaubare Buch zu lesen, kann es den Blick auf die aktuelle Weltlage ganz heftig durchschütteln. Das Pathos sei erlaubt, es hat mein Wissen über Politik hart mitgenommen.

Zurück in die siebziger und achtziger Jahre in Deutschland. Es gab ein paar Parteien, für deren Aufzählung reichte eine Hand, die machten die Politik. Im Bundestag saßen nicht nur Lehrer und Beamte, sondern auch Durchschnittsbürger und Handwerker. Der Arbeitsminister der CDU war gelernter Dreher. Dann gab es da ein paar Länder um Deutschland herum, dahin fuhr man in Urlaub oder zum Tabak- und Kaffeekaufen, manchmal noch zum Tanken. Zurück in das 21. Jahrhundert. Die Politik machen nun nicht nur der Bundestag und Bundesrat, sondern auch die EU, die europäische Zentralbank und der internationale Währungsfond, Expertengremien und internationale Organisationen aller Art. Im Gegenteil, das deutsche und viele andere Parlamente haben eine Menge Aufgaben und Zuständigkeiten an supranationale Stellen abgegeben. Der Bundestag ist keine für die Gesamtbevölkerung typische Versammlung aller Schichten mehr, sondern eine Konzentration von Juristen, Berufspolitikern und Akademikern überhaupt. Zu ihnen gesellen sich, wie in der Corona-Krise, Berater aus Wirtschaft und Wissenschaft. Wer regiert eigentlich in Deutschland noch wirklich? Wie es aussieht, überwiegend die, die nicht gewählt werden, sondern ernannt oder berufen. Wie die Juristen der Lobbyverbände, die für Politiker Entwürfe zu Gesetzestexten schreiben. So weit die eine Entwicklung. Die zweite ist noch weitreichender.

Die politische Geschichte der Gesellschaften entsteht zum größten Teil aus Konfliktlinien. Ein großer Wechsel der Konfliktlinie war der Übergang von einer Gesellschaft mit dem Adel auf der einen, Bauern und Handwerkern auf der anderen Seite zur industriellen Konfliktlinie. Nun waren die sich gegenüberstehenden Interessengruppen die Arbeit und das Kapital. So sah auch die Parteienlandschaft bis lange nach dem zweiten Weltkrieg aus. Arbeiter organisierten sich in der SPD oder der KPD, Kapital und Bürgertum in der CDU/CSU, dem Zentrum oder der FDP. Dass das nicht mehr zur gesellschaftlichen Realität passt, haben wir in der letzten Wahl 2021 zum Bundestag gesehen, die ehemaligen „Volksparteien“ landen bei um die 20%, statt wie früher bei 30, 40 oder 50%. Den nächsten Wechsel der Konfliktlinie kennen wir alle, haben ihn aber nicht wirklich als solchen wahrgenommen: die Globalisierung. Heute stehen sich nicht mehr Arbeit und Kapital als Pole mit unterschiedlichen Ansprüchen und Erwartungen gegenüber, sondern liberale Kosmopoliten einerseits und sogenannte kommunitäre Gruppen andererseits. Als stereotype Bilder dann Software-Entwickler, Consultants und überhaupt Akademiker, die sich in Berlin genau so wohl fühlen wie in London oder Kapstadt, dort die ehemaligen Arbeiterinnen und Arbeiter aus den aufgelösten Industrien und Hartz IV-Empfänger. Doch wenn sich die Regierenden aus dem selbem Umfeld rekrutieren wie die liberalen Kosmopoliten, dann wird in der Hauptsache Politik für die eigene Klientel gemacht. So entsteht die beinahe virtuelle Schicht der Verlorenen und Vergessenen, die sich in der Politik nicht mehr repräsentiert fühlt und es auch nicht ist. Das ist der Nährboden für den autoritären Populismus, der einfache Antworten auf unendlich komplexe Fragen in einer überbordend komplexen Welt bietet.

Unter diesen beiden Blickwinkeln, aber nicht nur diesen, auf die politische und gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte können Schäfer und Zürn die Herkunft und die Ideologie des Populismus ganz grundlegend erklären. Besonders eben ihre Ablehnung alles Internationalen und aller Experten. Ebenso, warum das Phänomen des Populismus ein weltweites ist und beinahe alle halbwegs modernen, sogar die ganz konsolidierten Demokratien heimgesucht hat. Die Erkenntnisse daraus unterscheiden sich von gängigen Ursachen-Beschreibungen wie mangelnde Bildung, irrationale Wut oder Verlustangst ganz wesentlich. Der autoritäre Populismus wird hier nicht nur verständlich und nachvollziehbar, sondern auch, wie man ihm begegnet. Dazu haben im besten Sine die Autoren ein Zitat von Willy Brandt genannt: Mehr Demokratie wagen. Ansonsten wird die Demokratie nur weiter erodieren und im schlimmsten Fall in Autokratien und Diktaturen münden. Schwer zu lesen, das Buch, aber erkenntnisreich.

Armin Schäfer

Armin Schäfer, geboren 1975, war von 2001 bis 2014 am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln tätig. Seit 2018 ist er Professor für Politikwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.

Michael Zürn

Michael Zürn, geboren 1959, ist Direktor der Abteilung »Global Governance« am Wissenschaftszentrum Berlin und Professor für Internationale Beziehungen an der Freien Universität. (Alle Angaben aus Suhrkamp-Verlag)

 

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