Le Monde diplomatique: Großbritannien

Le Monde diplomatique: Großrbritannien

Le Monde diplomatique: Großbritannien

Nicht selten fragen mich Leute, was denn bloß da drüben in Großbritannien los sei. So wegen Brexit und überhaupt. Ich gelte halt als Großbritannien-Versteher. Einmal, weil ich dort längere Zeit gearbeitet und gewohnt habe, aber auch wegen meiner regelmäßigen Aufenthalte in Wales und England. Bisher war ich relativ ratlos, so ratlos wie bei Fragen nach AfD, Pegida und der Neuen Rechten. Denn rational erklären kann man da nichts. Weder beim Brexit noch bei der AfD. Das ändert sich seit einiger Zeit, nachdem ich nun das eine oder andere Buch, den einen oder anderen Artikel in TAZ, Spiegel oder SZ gelesen habe.  Vollends informiert fühle ich mich seit dem Studium der Edition Le Monde diplomatique. Und so langsam verstehe ich sogar den Brexit. Der mit der EU so wenig zu tun hat wie die AfD mit Demokratie. Trotzdem bleiben Wales und England my home from home. Weil sich – wie in Sachsen – manche Dinge niemals ändern werden.

Diese Edition ist eine Sammlung von Artikeln, überwiegend aus dem Englischen übersetzt. Über die Entwicklung der britischen Gesellschaft, über die Grenze zwischen Irland und Nord-Irland, über die Ruinen des Empires, über die Kirche der Krone und viele weitere Themen. Siehe Inhaltsverzeichnis. Alles zusammen ergibt das Bild einer Gesellschaft, in der politische und wirtschaftliche Ungleichheit noch viel stärker zur Spaltung führt als in Deutschland oder Frankreich. Es ist das Bild einer Nation auf dem Weg nach unten, die den brutalen Weg in den Neoliberalismus teuer bezahlt. Bestes Beispiel ist das britische Gesundheitssystem, der NHS. Der wurde von Thatcher und Blair so genial privatisiert, dass heute externe Firmen dem Krankenhaus für eine Glühlampe 330 £ berechnen. Der NHS stirbt einen langsamen, aber sicheren Tod, weil in der Vergangenheit einfach falsche Weichen gestellt wurden, weil man glaubte, dass die Märkte es schon alles schön regeln würden. Sie haben es so schön geregelt, dass in London 30.000 Menschen auf der Suche nach einer Sozialwohnung sind, weil sie sich eine reguläre private Wohnung nicht mehr leisten können. Während nur rechts und links der Themse schon 41.000 Luxuswohnungen leer stehen, deren Besitzer in Katar oder Bejing wohnen, aber nicht in London. Die natürlich auch keine Gebühren oder Steuern gezahlt haben. Wie bei vielen politischen Entwicklungen ist die Situation in Großbritannien jedoch nicht aus einigen wenigen letzten Jahren zu erklären, sondern erst aus den letzten zwanzig. Man muss schon zu Thatcher und Blair zurück gehen, um die heutige Lage zu verstehen. Genau das leistet Le Monde mit Artikeln über eine beachtliche Themenbreite. Das ergibt ein wesentlich differenzierteres Bild als ein paar Beiträge in ARD oder n-tv.

Le Monde liefert hier ein sehr gut zusammen getragenes, im Grunde aber erschreckendes Beispiel für den aberwitzigen Glauben an liberales Wirtschaften und an die Kraft der Märkte. Am Ende versteht man sehr gut, warum so viele Briten so sauer, enttäuscht oder wütend sind. Sogar eine Menge Lords and Ladies, denn das ehemalige Sozialsystem Großbritanniens scheint sich zu verlieren. Also das, was für die soziale Stabilität in Großbritannien lange ein Garant war: die Berechenbarkeit einer Gesellschaft. Auch wenn das britische Gesellschaftssystem sehr starr und wenig durchlässig war. Wie im Osten Deutschlands sind gefühlte Sicherheiten und Zukunftsaussichten den Bach herunter gegangen. Aus einer stolzen und selbstbewussten Arbeiterklasse wurde Prekariat, die einstige wirtschaftliche Sicherheit der Mittelklasse ist brüchig geworden. Nicht mehr der Adel repräsentiert die Oberklasse, sondern globale Konzerne und Finanzhaie. Dass die Briten dann für den Brexit gestimmt haben, ist in etwas so plausibel wie die Rufe „Merkel muss weg!“. Wenn man sich eben nicht mehr anders zu helfen weiß. Nicht mal mehr im House of Commons.

Am besten erhältlich über den Shop der TAZ.

Harter oder weicher Brexit? Zweites Referendum? Oder No Deal? Die Wählerschaft ist gespalten, die Parteien sind zerrissen. Dabei hat Großbritannien so viel mehr zu bieten! Harriet Sherwood, Kully Thiarai, Raphael Honigstein und Rhian E. Jones über die Queen und ihre Kirche, Shakespeare in Wales, die Premier League und Grime-Musiker, die für Corbyn singen. (Klappentext Le Monde)

 

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