Volker Ullrich: 1923

Es hat zuweilen Versuche gegeben, das Jahr 2023 mit 1923 zu vergleichen. Was sich bei näherer Betrachtung als Unsinn herausstellt. Volker Ullrich, Autor des faszinierenden Buches über die letzte Woche des Dritten Reiches, hat nun ein Buch über genau dieses deutsche Schicksalsjahr 1923 geschrieben. Und macht deutlich, dass die politische, wirtschaftliche und soziale Lage vor einem Jahrhundert eine ganz andere war als nun im 21. Jahrhundert. Die Besetzung des Rheinlandes und des Ruhrgebietes durch Frankreich, die Hyperinflation als Folge daraus, das Erstarken rechtsextremer Parteien, die gefährliche Instabilität der jungen Weimarer Republik, führten zu einer völlig anderen Situation als die heutige. Nun über ein einzelnes Jahr ein so umfangreiches Buch zu schreiben, mag überraschen. Doch am Ende stellt man erstaunt fest, dass eben 1923 ein ganz spezielles Jahr war. Mit sehr vielen Entwicklungen, vielen Ereignissen, die seitdem unverrückbar in unseren Geschichtsbüchern stehen. Aber auch viele Details, die vergessen sind, kommen hier wieder in den Fokus. Geschichtsbücher reduzieren gerne die Sicht auf die Vergangenheit auf wenige Zahlen, Daten und Fakten, wo doch genau die Feinheiten, die Rolle einzelner Menschen und manchmal sogar der Zufall das Bild rund machen. Es ist die große Stärke von Volker Ullrich, diese Vielschichtigkeit in einer immer sachlichen, extrem detaillierten und doch fesselnden Weise zu servieren.

Volker Ullrich1923

Wenn es ein Ereignis gab, das die Zeit nach dem ersten Weltkrieg in eine Richtung zwang, war es die Besetzung des Ruhrgebietes durch Frankreich und Belgien. Grund dafür war, dass die Deutschen den unverhältnismäßigen Reparationszahlungen an die Alliierten nicht mehr nachzukommen konnten. Die Reaktion auf die Besetzung war, dass in der deutschen Wirtschaft, speziell Kohle und Stahl, passiver Widerstand etabliert wurde. Der Versuch der deutschen Regierung, den Forderungen doch noch nachzukommen, führte beinahe zum wirtschaftlichen Zusammenbruch und zur Hyperinflation. In der ein US-Dollar 240 Milliarden Mark, selbst ein Brot mehrere Millionen kostete. Die Arbeitslosigkeit stieg bis auf 20% an, Bauern wollten für das wertlose Papiergeld ihre Erzeugnisse nicht mehr auf den Markt bringen. Aber das waren für den damaligen Reichspräsidenten Ebert und den Reichskanzler Stresemann in seiner Minderheitenregierung nicht die einzigen Probleme. Neben dem Druck von außen kamen innerdeutsche Entwicklungen dazu.

In Thüringen und Sachsen gelangte die KPD in die Landesregierungen, unter dem Betreiben der jungen Sowjetunion. In Moskau glaubten Lenin und seine Regierung, die Instabilität des Reiches für eine Oktober-Revolution nutzen zu können. Die Reichsregierung mit der Reichswehr intervenierte, setzte Reichskommissare ein. In Bayern dagegen wurden Rechtsextreme immer stärker, ein gewisser Adolf Hitler machte seine NSDAP zu einer umjubelten Kraft. Mit dem Hitler/Ludendorff-Putsch im November als Höhepunkt. Im Rheinland sollte eine neue Republik gegründet werden, mal als Teil des Deutschen Reiches, mal als neuer Staat, mit dem Ziel der Ablösung von Preußen. In der Pfalz ähnliche Tendenzen, dieses Mal als Ablösung von Bayern, dem die Pfalz unterstellt war. Jeweils unterstützt von Frankreich und Belgien, die neutrale Pufferstaaten zu Deutschland anstrebten. Mit die größte Gefahr drohte jedoch von ganz rechts. Im Scheunenviertel in Berlin kam es zu ersten Pogromen gegen jüdische Geschäfte. Pöbelnde Hakenkreuzler zogen nachts durch die Straßen. Im deutschen Parlament saßen ja reichlich rechtsnationale und völkische Kräfte. Es war eine Gemengelage, die tatsächlich die erst kurz zuvor gegründete erste deutsche demokratische Republik an den Rand des Abgrundes führte. Spoiler: Das außen- und innenpolitische Geschick des Reichskanzlers und späteren Außenministers Stresemann half, das Schlimmste zu verhüten.

Doch außerhalb der Politik und Wirtschaft waren andere Entwicklungen zu beobachten. Kunst und Kultur entwickelten sich im Höhenflug. Theater, Cabarets und Kinos waren ständig überfüllt, Autoren wie Joseph Roth oder Bertold Brecht schufen ganz neue Theaterformen, Gropius gründete Bauhaus, zum ersten Mal meldete sich aus dem Vox-Haus in Berlin ein Radiosender, der Expressionismus feierte seine Höhepunkte. So erdrückend die wirtschaftliche Misere war, so ausufernd feierten die Menschen das Leben. Oder auch verzweifelt, weil niemand wusste, was der nächste Tag bringen würde. Ullrich schließt die Gesamtsicht durch einen Blick auf die Entwicklungen nach 1923 bis zur Machtübernahme durch die Nazis ab. Noch rechnete niemand ernsthaft damit, was sich doch schon unübersehbar abzeichnete. Nämlich, dass die Weimarer Republik zu schwach, zu zersplittert war. Schneller als im Jahreswechsel löste sich der Reichstag auf, standen Neuwahlen und Umbildungen an. Sie scheiterte an den extremen Rändern links und rechts. Was sich vorerst nicht änderte, war das kulturelle Leben und die kulturellen Veränderungen. Volker Ullrich schafft es, die unglaubliche Bandbreite an Themen und Ereignissen in 1923 in ein dichtes und verständliches Bild zu setzen, trotz vieler notwendiger Daten und Fakten am Ende eine spannende und faszinierende Geschichte zu erzählen.

Volker Ullrich wurde als Sohn des aus Luckenwalde bei Berlin stammenden Verlagslektors Paul Robert Ullrich und seiner Frau Erika, geb. Struve, in Celle geboren.[…] Nach dem Abitur am Gymnasium Hankensbüttel 1962 studierte Ullrich Geschichte, Literaturwissenschaft, Philosophie und Pädagogik an der Universität Hamburg und schloss 1968 mit dem Ersten Staatsexamen ab. Er arbeitete von 1966 bis 1969 am Historischen Seminar in Hamburg als Assistent von Egmont Zechlin und wurde 1975 mit einer Dissertation über die Hamburger Arbeiterbewegung Anfang des 20. Jahrhunderts promoviert. Nach dem Zweiten Staatsexamen war er ab 1976 als Studienrat für Deutsch und Geschichte in Hamburg zunächst am damaligen Oberstufenzentrum Süderelbe tätig, später länger am Wilhelm-Gymnasium. Außerdem war er zeitweise Lehrbeauftragter für Didaktik der Politik an der Pädagogischen Hochschule Lüneburg. 1988 wurde er Wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts. Von 1990 bis 2009 leitete Ullrich das Ressort „Politisches Buch“ bei der Wochenzeitung «Die Zeit». Ullrich ist als Rezensent für viele Medien tätig, so verfasst er auch öfters das Kalenderblatt des Deutschlandfunks, z. B. vom 13. Februar 2020 zum Gedenken an die Luftangriffe auf Dresden. Er hat zahlreiche Artikel in der Zeit und mehrere Bücher zu Themen der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts veröffentlicht. Mit dem Artikel «Hitlers willige Mordgesellen. Ein Buch provoziert einen neuen Historikerstreit» auf der Titelseite der Zeit vom 12. April 1996 initiierte Ullrich die „Goldhagen-Debatte“. 1992 wurde Ullrich mit dem Alfred-Kerr-Preis für Literaturkritik ausgezeichnet. 2008 verlieh ihm die Philosophische Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena ein Ehrendoktorat.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Volker Ullrich aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

2 Kommentare

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  1. […] auf den Punkt, sehr lesbar, geradezu unterhaltsam und mit vielen Details. Vorher waren schon 1923 und Acht Tage im Mai dran. Im Vergleich zu den früheren Werken ist «Hitler» eher ein schmales […]

  2. […] wären dann Bücher, die sich auf eine ganze Epoche beziehen, auf ein einzelnes Jahr wie bei Volker Ullrich, oder sogar nur auf eine einzelne Woche. Ralf Zerbach widmet sich in seinem Buch drei Jahren, […]

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