Hans Rosling: Factfulness
Wahrscheinlich ist es eher selten, dass ich mit Bill Gates und Barack Obama einer Meinung bin. Was dieses Buch angeht dann aber schon. Beide bezeichnen es als ein sehr lesenswertes und inspirierendes Buch. Es geht um unser Denken und unsere Vorstellung der Wirklichkeit. Wobei das Thema an sich für mich nicht ganz so neu war, denn auch die Bücher von Gerd Gigerenzer und Daniel Kahneman beschäftigen sich mit der Frage, warum wir mit unseren Bauchgefühlen und Intuitionen so oft falsch liegen. Rosling beweist das nicht nur besonders anschaulich, sondern zeigt unsere Fehleinschätzungen der Realität besonders plakativ und überraschend zugleich. Dabei war Rosling nicht Psychologe oder Soziologe oder gar Philosoph, sondern kam aus der Medizin. Genau dort stieß er jedoch auf Hinweise, dass wir mit unseren Einschätzungen und Urteilen weit unter Zufallsergebnissen liegen. Und sogar schlechter in Fragenkatalogen zu medizinischen, politischen und sozialen Themen abschneiden als eine Horde Schimpansen. Das führt er auf einige, wie er sie nennt, Instinkte in unserem Denken zurück. Wie der Instinkt der Dringlichkeit. Deshalb dieses Buch lesen! Sofort! Ehe es zu spät ist!!!
Roslings Untersuchungen gehen schon sehr lange zurück. Im Buch konfrontiert er den Leser am Anfang mit einem Fragenkatalog zu Daten aus dem Gesundheitswesen, zu Schulbildung oder zur Zahl der weltweit geimpften Kinder. Auch mein Ergebnis, wie die Lage der Welt in diesen Themen sei, war katastrophal. Selbst eine Versammlung von Wissenschaftlern, Unternehmern oder Journalisten schnitt nicht besser ab. Rosling schließt daraus, dass unsere Sicht der Welt überwiegend grundfalsch ist und an der tatsächlichen Situation völlig vorbei geht. Beispiele: Wie viele Mädchen weltweit besuchen die Grundschule? 20/50/80%? Wie viele Säuglinge sterben weltweit schon bevor sie ein Jahr alt werden? 1/5/20%? Wie viele Menschen haben Zugang zu Elektrizität? 20/40/80%? Die Fakten liegen ganz anders, als die meisten von uns glauben. Weil alte Denkmodelle, Urteile und Erklärungen nicht mehr in die Gegenwart passen. Die Welt hat sich längst weiter gedreht. Nur haben wir das noch nicht gemerkt.
Was Rosling als Instinkte bezeichnet, sind Denkmodelle und Überzeugungen. Er beginnt mit dem Instinkt der Kluft. Wir sehen unsere Umwelt gerne in zwei Lager geteilt, wie die Unterscheidung zwischen moderner Welt und den Entwicklungsländern. Anhand von Statistiken der UN oder anderen Quellen stellt sich jedoch heraus, dass diese Unterscheidung heute völlig falsch ist. Stattdessen teilt Rosling die Welt in vier Gruppen. Gruppe 1 sind die wirklich Armen, die es heute eigentlich nur noch sehr selten gibt, die auf Lehmboden schlafen und nicht einmal eine Zahnbürste besitzen. Gruppe 4 sind Menschen wie wir in Deutschland oder in den USA. Doch die meisten Menschen leben in den Gruppen 2 und 3, haben ein Transportmittel, eine Wohnung, Zugang zu sauberem Wasser und Strom. Diese andere Sichtweise ist schon deshalb notwendig, weil viele frühere „Entwicklungsländer“ heute weit fortgeschritten sind, zuverlässige medizinische Versorgung und soziale Systeme haben. Auf Basis dieser neuen Einteilung sieht die Welt ganz anders aus und entlarvt unsere Vorstellungen anderer Länder und Menschen als komplett realitätsfremd. Dazu nutzt Rosling eine Darstellung von Daten als Blasen, deren Größe und Position von der jeweiligen Gruppe und der Gruppengröße abhängt. So verschiebt sich der Blick in die Welt grundlegend.
Weitere Instinkte, die unser Denken dominieren, sind zum Beispiel der Instinkt der Angst oder der Instinkt der Verallgemeinerung. Angst verhindert überlegtes, realistisches und zielorientiertes Denken und Handeln, ist deshalb bevorzugtes Instrument von Terroristen und Populisten. Die Anzahl von Kindern in einer Familie hängt weder von der Religion, der Herkunft noch der Hautfarbe ab. Sondern vom Einkommen. Durch Verallgemeinerungen, Farbige seien weniger gebildet, Muslime alle gewaltbereit und rückständig, ersparen wir uns eine Menge Denkarbeit, denken jedoch an der Wirklichkeit vorbei. Viele der gängigen Überzeugungen, wie die Welt nun eben sei, beruhen auf Informationen, die schon seit vielen Jahrzehnten überholt sind. Doch wir bleiben oft mit unseren Denkschemata in der Vergangenheit stecken. Rosling möchte zu einem anderen Ansatz überleiten, einer faktenbasierten und reflektierten Sichtweise, unsere Vorstellungen, unser Wissen und unsere Urteile kritisch zu überdenken. Zu einer Erneuerung unseres Denkens und auch Handelns. Dazu nutzt er Methoden wie eben diese Blasendiagramme oder ein Projekt namens Dollarstreet, um eine andere Perspektive auf die Realität zu ermöglichen. Oder eben die Website Gapminder.
Das Buch ist ein Sachbuch, aber verblüffend locker und anregend geschrieben. Rosling zeigt anhand seiner eigenen Denkfehler und Fehlleistungen, wie brutal wir manchen Überzeugungen folgen, obwohl sie mit der Wirklichkeit nichts zu tun haben. Oder nicht mehr. Wie sehr wir uns von Denkschablonen leiten lassen. Seine eingestreuten Beispiele aus eigener Erfahrungen sind immer wieder lustig, halten uns aber zugleich einen Spiegel vor, wie wenig unsere von ihm so genannten Instinkte helfen, zu einer wirklichkeitsnahen Sichtweise zu führen. Dabei ist seine Sicht immer positiv, er bezeichnet sich selbst nicht als Optimist, sondern als Possibilist. Folgt man seinen Daten und Fakten, zieht man eigene bisherigen Denkstrukturen in Zweifel, kann man ihm am Ende nur zustimmen. Nicht, weil er indoktriniert, sondern überzeugt. Durch Daten, Fakten, öffentliche Statistiken. So sagt er auch, es sei vielleicht noch vieles schlecht, aber es sei schon vieles besser geworden. Ein faszinierendes Buch. Sagen auch Bill und Barack.
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