Bernhard Pörksen: Zuhören
Die Polykrise der letzten Monate, Putin und Trump, Bundestag, Klima und Ukraine, haben mich eher bei aktuellen Podcasts gehalten. Doch ein neues Buch von Bernhard Pörksen ist ein Wecker, mich mal wieder lesend mit anderen Themen zu beschäftigen. Pörksen beginnt das Buch mit einer Geschichte von Søren Kierkegaard. Ein Zirkuszelt am Rande eines Dorfes, inmitten ausgetrockneter Felder, gerät in Brand. Ausgerechnet den schon geschminkten Clown mit seinen lustigen Schuhen schickt man ins Dorf, um zu warnen und um Hilfe zu holen. So sehr er sich anstrengt, die Gefahr zu schildern, in der das Dorf schwebt, lacht man über ihn und hält sein Erscheinen für einen Gag und für Werbung. Niemand hört ihm zu, was er wirklich zu sagen hat, bis es zu spät ist. Dabei würde man sagen, Zuhören sei doch ganz einfach und alltäglich. Aber hören wir wirklich immer, was uns unser Gegenüber zu sagen hat, hören wir die wirkliche Botschaft? Zuhören, Dialog auf Augenhöhe, sind Schlagworte unserer Zeit, aber nur Leerformeln der politischen Rhetorik. Was heißt denn zuhören, nämlich die eigenen Überzeugungen in Frage stellen oder außenvor lassen, sich der Sicht auf die Welt anderer Menschen auszusetzen? Warum hörte man lange nicht auf die Opfer des sexuellen Missbrauchs in Schulen und in den Kirchen, warum hört man nicht auf die Warnungen vor dem Klimawandel? Pörksen zeigt, welche Mechanismen das Zuhören verhindern, ob im privaten Umfeld oder in der Öffentlichkeit. Und er präsentiert Ansätze und Methoden, die eine neue Offenheit, tieferes Verstehen und empathisches Zuhören ermöglichen. Wie erreicht man, so lautet die Schlüsselfrage, diejenigen, die man nicht mehr erreicht?
Dazu ist es laut Pörksen erst einmal notwendig zu sehen, was unter Zuhören heute fast ausschließlich verstanden wird: Das Gesagte des Gegenübers aufnehmen und gleichzeitig schon vollauf damit beschäftigt zu sein, Aussagen und Meinungen zu widerlegen, die eigene Position entgegen zu stellen, in den Kampfmodus zu gehen. Es geht gar nicht um Diskurs oder Dialog, sondern nur um Konfrontation. Diese Haltungen wurden gerade durch die digitalen Medien noch erheblich verstärkt. Gehört wird vorrangig der- oder diejenige, die am lautesten, knalligsten und so emotional wie möglich herumbrüllt. Ein wirkliches Wahrnehmen des Gegenübers findet nicht statt, wobei es nicht darum geht, ständige Harmonie zu produzieren und eitel Sonnenschein zu verbreiten. Aber selbst die Möglichkeit der gleichzeitigen Gültigkeit von unterschiedlichen Meinungen und Ansprüchen wird geleugnet.
Pörksen geht auf diese Situation in mehreren Kapiteln aus der Praxis ein. Man kann sich schon fast denken, mit welchen Beispielen. Die Missbrauchsfälle an der Odenwaldschule wurden von Betroffenen schon 1999 in einem Artikel in der „Frankfurter Rundschau“ geschildert. Doch fast niemand reagierte darauf. Stattdessen wurden die Anschuldigungen relativiert oder geleugnet, die Koryphäen der Reformpädagogik, insbesondere der Leiter der Schule, durften nicht angetastet werden. Erst als mit dem Einzug der sozialen Medien Anfang der 2000er, als sich Betroffene solidarisierten und der Missbrauch auf breiter Front öffentlich gemacht wurde, sprangen Leitmedien auf den Zug auf. Zuletzt wurde die massiv beschädigte Schule geschlossen. Ohne die sozialen Medien hörte niemand den missbrauchten und traktierten Schülerinnen und Schülern zu.
Als am 24. Februar 2022 gegen fünf Uhr der Angriff der Russen auf die Ukraine begann, flüchtete Misha Katsurin aus Kyjiw mit seiner Familie mal hierhin, mal dorthin. Er wartete darauf, dass sich sein in Russland lebender Vater melden würde, um nachzufragen, wie es seinem Sohn geht. Nach mehreren Tagen rief Misha seinen Vater an, der jedoch meinte, es gäbe keinen Krieg, höchstens eine militärische Spezialoperation, und die russische Armee käme nur nach Kyjiw, um die Menschen vor den Nazis zu schützen. Je mehr Misha beteuerte, dass ukrainische Städte in Schutt und Asche gelegt würden, desto weniger hörte sein Vater noch zu. Die Propaganda aus dem Kreml war stärker. Katsurin richtete einen Blog ein, mit dem Titel „Papa, believe“. Tausende schilderten die Gräuel und Verbrechen der russischen Armee. Doch russische Besucher des Blogs leugneten weiterhin den Krieg gegen die Ukraine. Der Kontakt zwischen Misha und seinem Vater brach ab. Der Vater wollte nicht zuhören.
Die Anfänge dessen, was man heute die digitale Gesellschaft nennt, begann im Silicon Valley in den USA. Als sich frühere Hippies und Informatiker daran machten, Leute über Computer und Netze zu verbinden, Ideen auszutauschen, eine gerechtere und besser informierte Welt zu schaffen. Das setzte voraus, dass man einander zuhörte, sich wahrnahm und Pluralität zuließ. Die Anfänge des Internets, die sogenannten Newsgroups plus E-Mail, ohne Bilder und Videos, nur Text, habe ich noch selbst erlebt. Dann kam das World Wide Web, damit die sozialen Medien, Geschrei und Gepöbel, grelle Werbung mit Mikrotargeting. Inzwischen hört niemand mehr zu. Zuletzt der Klimawandel. 99% aller beteiligten Wissenschaftler weisen nach, dass sich die Erde immer weiter erwärmt. Extremwetter nehmen zu, Gletscher schmelzen ab, Seewege durch die Arktis, die bisher immer zugefroren waren, sind nun eisfrei, eröffnen Schiffen den Weg zwischen Europa und Asien. Alle Aufrufe zum Umweltschutz und zum Ausstieg aus der Nutzung von fossilen Energieträgern gehen, nach einem kurzen Aufflackern in den Neunzigern, wieder zunehmend ins Leere. Weil die Parolen, ein gutes Leben sei nur das mit extensivem Konsum, mit SUVs und langen Flugreisen, das Leben im Luxus, stärker wirken. Den Wissenschaftlern und NGOs möchte niemand zuhören, denn man fürchtet ja den Verzicht auf das gute Leben. Auch wenn schon so viele gezeigt haben, dass gutes Leben und Freiheit nichts mit Konsum zu tun haben. Auch dort wird nicht zugehört.
Hat Pörksen nun die Antwort, wie wir wieder zuhören, wie wir unserem Gegenüber wieder einen guten Willen zugestehen? Nicht wirklich, aber Pörksen macht schon sehr deutlich, was schief läuft, warum wir gerade an den entscheidenden Stellen im öffentlichen Diskurs nicht mehr weiter kommen. Was auch mit den falsche verstandenen Idealen der Aufklärung zu tun hat. Er zeigt die Mechanismen, warum Populisten und Verschwörungserzähler so viel Resonanz bekommen. Warum nicht mehr zugehört wird, und nicht hinterher gehört. Warum Sprache zu Hatespeech und Lüge verkommt. In diesem Sinne ist das Buch schon hilfreich, weil es die Mechanismen offenbart, die das Auskommen in der Sprache so erschweren. Doch einen Rat hat er am Ende doch parat: „Wirkliches Zuhören ist gelebte Demokratie im Kleinen, Anerkennung und Akzeptanz von Verschiedenheit, Suche nach dem Verbindenden, Klärung des Trennenden, gemeinschaftliche Erkundung der Welt, die überhaupt erst im Miteinander-Reden und Einander-Zuhören entsteht.“
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