Charlie English: Wahn und Wunder
Als ich den Klappentext las, war mir nicht mehr wirklich erinnerlich, warum ich dieses Buch bei der Bundesanstalt für politische Bildung bestellt hatte. «Wahn und Wunder – Hitlers Krieg gegen die Kunst». Denn außer zu Musik habe ich zu Kunst keine wirklich innige Beziehung. Diszipliniert, wie ich gelegentlich bin, begann ich zu lesen. Musste dann schon nach kurzer Zeit zugeben, dass ich ein Buch erwischt hatte, das noch einmal neue, unbekannte Aspekte der Naziherrschaft zeigte. Es geht um Kunst, beginnend in der Weimarer Republik, endend, genau genommen, in der Gegenwart. Doch es geht um eine spezielle Kunst und dem, was daraus folgen sollte, in allen Konsequenzen. Um die Kunst von Psychiatrie-Insassen, um „entartete“ Kunst, um moderne Kunst, um den Umgang der Nazis mit Kunst und um ihr Verständnis, was Kunst denn sei und wozu gut. Davon nicht zu trennen ist die unsägliche Aktion T4, als die Nazis begannen, Behinderte und psychisch Kranke in ausgewählten Anstalten mit Kohlenmonoxid, überdosierten Medikamenten oder schlichtweg durch Verhungern zu ermorden. Sozusagen als Prototyp des später folgenden Holocausts. Also nicht nur ein Buch über Kunst, sondern viel mehr über Zeitgeschichte. Über die Irren, die bis 1945 frei herum laufen durften. Über eine Zivilgesellschaft, eine Justiz und Kirchen, die wegschauten. Bis es zu spät war.
In der Weimarer Republik baute der Psychiater Hans Prinzhorn eine besondere Kunstsammlung auf. Die Schöpferinnen und Schöpfer dieser Werke waren allesamt Insassen psychiatrischer Anstalten und wurden im damaligen Verständnis und Sprachgebrauch als Irre oder Geisteskranke bezeichnet. Neben Prinzhorn ist eine zweite Person so etwas wie ein zentraler Punkt, Franz Karl Bühler, langjähriger Insasse der Psychiatrie, zuletzt in Emmendingen. Doch die Bilder und Skulpturen der Patienten aus den Anstalten waren nicht einfach Kritzeleien oder sinnloses Zeugs. Sie nahmen durch Subjektivität, Radikalität und Abstraktion wichtige Entwicklungen der modernen Kunst vorweg und inspirierten diese zugleich. Künstler der Moderne und Avantgarde wie Paul Klee, Oskar Kokoschka, Max Ernst und Salvador Dalí fanden in den Werken neue Ideen. Für die Nationalsozialisten jedoch war die Avantgarde der Inbegriff „entarteter Kunst“, die mit allen Mitteln bekämpft wurde. Unter anderem mit den Ausstellungen „Entartete Kunst“, die ab 1941 zur Wanderausstellung wurde. Die Nazis sahen nur Landschaftsbilder sowie Bilder von sportgestählten blonden Edelmenschen als wirkliche Kunst. Wichtige Grundlage war in diesem Kunstbegriff natürlich das nationalsozialistische Bild eines neuen Menschen, des perfekten Ariers. So sollte einmal das ganze deutsche Volk werden. Nun betrachtete sich Adolf Hitler ja selbst als Künstler, wenn er auch den Eintritt in eine Akademie nie schaffte. Hitler konnte nur Gebäude gut zeichnen, an der Darstellung von Menschen, selbst an Perspektiven scheiterte er. So wurde die Kunst, oder was die Nazis als Kunst sahen, zu einem wichtigen Faktor in der braunen Ideologie. Hatte sich doch Hitler während der Festungshaft als Staatskünstler erkannt.
Charlie English zeigt am Beispiel der Sammlung Prinzhorn, wie sehr sich bald der Kampf gegen die moderne Kunst mit der systematischen Vernichtung von Menschen verband. Nachdem das Regime 1940 begonnen hatte, in der „Aktion T4“ Menschen mit tatsächlichen oder vermeintlichen körperlichen oder psychischen Einschränkungen zu töten, dienten die systematischen Morde in den Tötungsanstalten als Blaupause für die Vernichtungslager im besetzten Polen ab 1941 während des Holocausts. Eines der frühen Opfer der „Aktion T4“ war eben der Künstler Franz Karl Bühler, dessen Bilder besonders beeindruckt hatten. Anhand seiner Biografie und auch der von Prinzhorn zeichnet English die Entwicklungslinie von der Ausgrenzung bis zur physischen Vernichtung nach. Nicht nur der Psychiatriepatienten, sondern auch anderer Künstler. In diesem Thema ist das Buch von Uwe Wittstock zum Februar 1933 interessant, in dem es in der Hauptsache um Literatur geht. Andererseits zeigte sich gerade zum Ende der Nazidiktatur, dass Leute wie Adolf Hitler von den „Kranken“ und „Ballastexistenzen“ mental nicht sonderlich weit entfernt waren. Wie Adolf Hitler 1945 in seinem Bunker unter der Reichskanzlei selbst allmählich dem Wahnsinn verfiel. Obwohl ein großer Teil der Sammlung Prinzhorn in der Endzeit des Dritten Reiches verloren ging, sind viele Exponate noch heute zu sehen.
Es ist nicht ganz einfach, dieses Buch von Charlie English in eine Kategorie zu packen. Am besten ist das Genre der Dokumentation passend, denn es geht um geschichtliche, politische und gesellschaftliche Fragen und Entwicklungen dieser Zeit. Aber English zählt nicht nur Daten auf, er schildert die Schicksale der weggesperrten Menschen mit Empathie und Nähe. So ist das Buch manchmal Erzählung, manchmal Essay oder fast wie ein Roman. So dass das Buch durchgehend spannend bleibt. Was ich in anderen Büchern vorher nicht so gefunden habe, sind die Details der Tötungsaktion T4, die Rolle der Kunst im Dritten Reich und welche Funktion Kunst für die Nazi-Herrschaft hatte. Eben keine kleine Rolle, die Kunst spielte in der Umerziehung und nationalsozialistischen Prägung der Menschen in Deutschland eine wesentliche Funktion. English beschreibt Geschichte und politische Hintergründe in vielen Details, erzählt über die beteiligten Menschen auf beiden Seiten der Anstaltsmauern. Von der Dokumentation trennt sein Buch, das die Zeit dieses Themas von der Weimarer Republik über das Dritte Reich bis hin zu seinem Ende fast wie ein Roman erzählt, die Empathie. Was er schildert, ist die Brutalität und Menschenverachtung faschistischer Ideologie. Also kein Buch für Kunstverliebte und Schöngeister, sondern eine Mahnung.
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