Steffen Mau: Ungleich vereint

Noch ein Buch über den Osten, das Billy-Regal droht zusammen zu brechen. Langsam hätte ich eine Tendenz, Bücher zu diesem Thema zu ignorieren. Wenn dann nicht der Autor Steffen Mau hieße, den ich aus anderen Veröffentlichungen schon kenne. Findet Steffen Mau noch andere Aspekte in der Sache? Im Rahmen des Möglichen schafft er das durchaus. Dazu geht Mau auf Daten und Fakten ein, die zwar im Grunde bekannt, aber selten wirklich bewusst sind. Nämlich die Unterschiede zwischen Ost und West hinsichtlich Sozialstruktur, Demografie, Fragen der Demokratie, Geschichtsverständnis und Identitätspolitik. Malt man nun eine Karte der Bundesrepublik mit allen Bundesländern, färbt man die Länder unter diesen Aspekten ein, so ist immer noch zwischen Ostdeutschland und Westdeutschland die ehemalige Zonengrenze deutlich sichtbar. Nun stellt sich die Frage, was man mit diesen Erkenntnissen macht, die Mau in den ersten sechs Kapiteln des Buches im Detail beschreibt. Hier hat Mau etwas Unerwartetes in der Tasche, das er im letzten Kapitel hervor zaubert. Er hat tatsächlich Ideen, wie man die historisch und politisch gewachsenen Unterschiede zwischen dem westlichen und östlichen Teil Deutschlands angehen kann. Das klingt sogar richtig gut und machbar. Ich wäre auf jeden Fall dabei.

(Einen Beitrag von Steffen Mau zum Thema findet man auch bei der Bundeszentrale für politische Bildung.)

Steffen MauUngleich vereint
WDR 5 Neugier genügtSteffen Mau - Extremistische Zeitenwende

Bei der Wiedervereinigung 1990 hatte man gedacht, man könne den „ready-made state“ BRD einfach der ehemaligen DDR überstülpen. Bekannt ist nach über 30 Jahren nun, dass das nicht funktioniert hat. Auch die Idee, der Westen sei der Normalfall und der Osten die Abweichung, hat sich als naiv heraus gestellt. Wenn nicht sogar als falsch. Steffen Mau geht noch einen Schritt weiter, indem er klar macht, dass „der Osten“ noch lange Zeit anders sein wird als der Westen. Nicht nur die Generationen, die die DDR selbst erlebt haben, sondern auch die Nach-Wende-Generationen denken anders. Es gibt eine wirklich spezifische Ost-Identität. Die über Eierschecke und Soljanka hinaus geht. Denn die westlichen und die östlichen Bundesländer unterscheiden sich immer noch in wichtigen Punkten. Nur zwei Prozent der Erbschaftssteuer in Deutschland kommen aus den neuen Bundesländern ohne Berlin, weil es zu DDR-Zeiten keine Vermögen aus Immobilien, Grundstücken und Kapitalwerten gab. Erst in mehreren Generationen wird sich das ändern. Das Misstrauen gegenüber Parteien, Institutionen und Medien ist im Osten noch immer erschreckend hoch. In Hessen gibt es ein Vielfaches an SPD-Mitgliedern als in den gesamten neuen Bundesländern zusammen. Vereine und Verbände haben im Osten keine Geschichte, sie entstehen erst nach und nach. Das ehrenamtliche Engagement ist dort deutlich geringer. Das Private war wichtiger als das Öffentliche. Zwar gibt es eine tendenziell positive wirtschaftliche Entwicklung, doch nur Oberzentren wie Leipzig, Jena oder Dresden profitieren deutlich davon. Eine Situation, die gar nicht mit der Wiedervereinigung zusammen hängt, ist die Strukturschwäche mancher Regionen in Ostdeutschland. Es sind immer noch die gleichen wie vor der Weimarer Republik. Die Abwanderung junger, gut ausgebildeter Menschen in den Westen lässt manche Landstriche vergreisen. Der Altersdurchschnitt in Görlitz ist erschreckend hoch. So, wie Steffen Mau die Faktenlage noch einmal zusammen fasst, ist es wenig verwunderlich, dass in den neuen Bundesländern eine Ressentiment-Gesellschaft entsteht. In der Wut und Desinteresse vorherrschen. Es ist in anderen osteuropäischen Ländern wie Polen oder Slowenien nicht einmal anders.

Unter diesen Vorzeichen ist der Aufstieg der AfD wenig erstaunlich. Gerade mit der kritischen Haltung gegenüber der westdeutsch geprägten Politik und Verwaltung. So hat das Kreuzchen auf dem Wahlzettel bei der AfD eben nicht seine Ursache in einer wirklich breiten rechtsextremen Gesinnung in Sachsen oder Brandenburg. Sie ist, wenn man so will, eine Folge der Verhältnisse. Mau fasst die aktuelle Stimmung und Lage im Osten sehr verständlich und nachvollziehbar zusammen, mit Zahlen, Daten und Fakten, wie auch mit historischen Rückbezügen. Es bleibt die Frage, wie man nun weiter macht. Den Osten einfach ignorieren? Oder ihn eben so eigen sein lässt, wie wir es ja gegenüber Bayern, Saarland oder Schleswig-Holstein auch machen. Da akzeptieren wir, dass die Gegenden ihren Eigensinn, ihre eigene Kultur haben. Nur der Osten soll sich doch bitte nach den Vorstellungen in Berlin oder München assimilieren. Tatsächlich liegt die Anspannung viel an anderen Vorstellungen von Politik. Und da bietet Mau am Ende einen so einfachen wie überraschenden Vorschlag. Warum die neuen Bundesländer nicht als „Labor der Partizipation“ nutzen? Steffen Mau behauptet nicht, die perfekte Lösung zu haben, wenn er anregt, Instrumente wie Bürgerräte zu nutzen, Mitwirkung an Themen und Entscheidungen zu ermöglichen. Ohne die klassischen Parteien und Strukturen aus dem Westen. Indem man die Leute einbindet, so wie es die Gruppen im Herbst 1989 vorhatten, die eine neue demokratische DDR andachten. Und wie in der westdeutschen Kommunalpolitik auch. Vielleicht könnten die Leute in Ostdeutschland das realisieren, was vor der Wiedervereinigung als Staat angedacht war. Entwicklungen, die dann aus den östlichen in die westlichen Länder übertragen werden könnten. Größere Mitbestimmung, mehr Einfluss auf politische Entscheidungen, mehr Volksbeteiligung wagen. Maus Vorschläge sind in diesem Sinne ein realistischer Weg, eine Politik für alle zu gestalten. In der Wut, Desinteresse und Ressentiment durch Partizipation abgelöst werden. Wo eine AfD, und vielleicht auch eine BSW, nicht mehr gebraucht werden.

«Ungleich vereint» ist ein Buch, das man demokratischen Politikern aller Coleur als Pflichtlektüre in die Hand drücken möchte. Vielleicht ist noch mehr Hoffnung möglich, als man aktuell manchmal denkt. Der Zug könnte noch lange nicht abgefahren sein. Wenn man Maus Gedanken mal ernst nimmt.

Steffen Mau (* 31. Oktober 1968 in Rostock) ist ein deutscher Soziologe und Professor für Makrosoziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Mau gehört seit 2021 zum Sachverständigenrat für Integration und Migration. […] Seit 2015 hat er die Professur für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität zu Berlin inne und forscht u. a. zu den Themen soziale Ungleichheit, Transnationalisierung, europäische Integration und Migration. Sein Buch «Lütten Klein» (2019) stand auf der Spiegel-Bestsellerliste. In dem Buch schreibt er über die Transformationsgeschichte des Ortes im Zuge des Zusammenbruchs der DDR. […] Mau beschäftigt sich auch intensiv mit der Frage, inwieweit die Deutschen in einer gespaltenen Gesellschaft leben. Auf Grund seiner empirischen Forschungsergebnisse vertritt er die Meinung, dass Deutschlands Gesellschaft nicht in dem Sinne gespalten sei, dass sich zwei Großgruppen gegenüberstünden; vielmehr finde eine Radikalisierung der Ränder des politischen Spektrums statt, wobei insbesondere der rechte Rand mit einer immer stärker über Emotionalisierung gesteuerten Politik („Affektpolitik“) bis weit in die Mitte des politischen Spektrums hineinwirke. Mau war 2022 bis 2023 Mitglied der Jury für den Standortwettbewerb für das Zukunftszentrum für Deutsche Einheit und Europäische Transformation. Im Januar 2021 wurde Mau durch die Bundesregierung in den Sachverständigenrat für Integration und Migration berufen. Im Sommer 2024 erreicht sein Buch «Ungleich vereint» vordere Plätze auf den Bestsellerlisten.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Steffen Mau aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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