Uwe Wittstock: Marseille 1940

Als ich das bestellte Buch über Dinge, an denen das Herz hängt, beim Buchhändler meines Vertrauens abholte, lag tatsächlich das neue Werk von Uwe Wittstock in der Auslage. Als ich daran vorbei ging, wusste ich, dass ich es eh bald holen würde, denn Uwe Wittstock ist ein großer Erzähler über Geschichte. Februar 33 war mein erstes Buch von ihm, und ich habe es sehr zügig gelesen. Weil Wittstock über Historie schreibt wie in einem Roman, spannend, detailliert, mit wechselnden Bezügen und Orten. «Marseille 1940» ist da nicht anders. Das Jahr, in dem die deutsche Reichswehr quasi über Nacht Frankreich überfiel und einnahm, und viele Autoren und Künstler schnellstens das geliebte Paris verlassen mussten. Zuerst mit unklarem Ziel, Hauptsache weg, dann Richtung Süden, in den von den Deutschen nicht beherrschten Teil Frankreichs. Doch das Vichy-Regime, mit den Nazis kooperierend, machte es schwer, in Frankreich zu bleiben. Erzählt werden die Schicksale von mehr und weniger bekannten Menschen, Lion Feuchtwanger, Heinrich und Golo Mann, Hannah Arendt, Marc Chagall und viele mehr. Ausgerechnet ein junger Amerikaner nimmt sich vor, so viele der Verfolgten zu retten wie möglich.

Uwe WittstockMarseille 1940

Im Juli 1935 besucht ein junger US-amerikanischer Journalist zum ersten Mal Deutschland. Zwei Dinge beeindrucken ihn, einmal die kosmopolitische Atmosphäre von Berlin, und die durch die Straßen marodierenden SA-Schlägertrupps, die scheinbar wahllos Leute zusammen prügeln. Schon in 1933 haben viele Autoren, Künstler und Journalisten Deutschland verlassen, nach der Machtübernahme der Nazis. Die Meisten von ihnen leben inzwischen in Paris, neben Großbritannien die wichtige Kulturnation in Europa. Nach dem Überfall Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 erklärt Frankreich sofort den Krieg, doch bis Mai 1940 tut sich nichts, die Zeit des „Sitzkrieges“ zwischen den Nachbarn am Rhein. Dann marschieren die Deutschen urplötzlich über den Norden von Belgien aus in Frankreich ein. Nicht zuletzt durch pharmakologische Unterstützung sind die Deutschen nicht aufzuhalten. Sie schlafen nicht, sie ruhen nicht. Anfang Juni 1940 stehen sie vor Paris. Schon zuvor, bei Beginn des Krieges, wurden Exilanten in Internierungslager gesperrt, unter erbärmliche Bedingungen. Nach der Kapitulation der französischen Regierung und Installation des Vichy-Regimes unter Marschall Pétain fliehen die Exilanten, Intellektuelle wie Jüdinnen und Juden, verzweifelt in den unbesetzten Süden der Republik. Der Journalist von 1935, Varian Fry, beschließt, so viele Menschen wie möglich zu retten. Er gründet eine Flüchtlings-Organisation in den USA, sammelt Spenden, reist nach Frankreich und beginnt, Fluchtwege zu finden. Eigentlich sind nur vier Wochen geplant, doch er kehrt erst im November 1941 in die USA zurück. Nicht zuletzt auf Druck des amerikanischen State Departments. Bis dahin organisiert er Auswege aus Frankreich nach Spanien und Portugal, besorgt Visa aus den USA, doch die Polizei und die Gestapo kommen immer näher. Am Ende ist das Zentrum der Fluchtbewegung Marseille. Viele schaffen es von dort über Berge und Schleichwege zu entkommen. Nicht wenige aber auch nicht.

Uwe Wittstock hat die Geschehnisse dieser Zeit in Frankreich, von Mai 1940 bis nach der erzwungenen Abreise von Varian Fry im November 1941, in akribischer Detailarbeit erforscht. Nicht nur die vielen Aktivitäten und Tricks, um die Verfolgten zu retten. Sondern auch die charakterlichen und persönlichen Hintergründe der mal mehr, mal weniger bekannten Persönlichkeiten. Künstler, Schriftsteller und auch einzelne Politiker der SPD. Dabei ist Varian Fry zwar eine zentrale, aber nicht entscheidende Person. Ohne die Hilfe von anderen Amerikanern, Franzosen und Deutschen wäre die Rettung vieler tausend Menschen nicht möglich gewesen. Obwohl hinter dem Buch eine enorme geschichtliche Recherche steht, liest es sich wie ein Roman, schon fast wie ein Krimi. Eine Parallele zu «Februar 33», beide Bücher sind zwar in erster Linie geschichtliche Werke. Doch erst mit Uwe Wittstock werden daraus Geschichten über Menschen. Mit einer Menge Details, die über die Zeit des Zweiten Weltkrieges in Frankreich hier bei uns eher unbekannt sind. Auch «Marseille 1940» ist wieder so ein Buch, das man, einmal begonnen, schwerlich aus der Hand legen kann. Abenteuerlich, spannend und informativ zugleich.

Uwe Wittstock (* 5. Juni 1955 in Leipzig) ist ein deutscher Literaturkritiker, Lektor und Autor. Wittstock begann seine Tätigkeit als Journalist bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, wo er von 1980 bis 1989 in der Literaturredaktion arbeitete. Von 1989 bis 1999 war Wittstock leitender Lektor für deutschsprachige Gegenwartsliteratur im Frankfurter S. Fischer Verlag. In diesem Zeitraum war er auch Mitherausgeber der Literaturzeitschrift Neue Rundschau. 2000 wurde er zunächst stellvertretender Feuilletonchef der Tageszeitung Die Welt, seit 2002 war er deren Kulturkorrespondent in Frankfurt am Main. Vom 1. Oktober 2010 bis Ende 2017 war Wittstock Literaturchef des Magazins Focus. Er lebt bei Frankfurt am Main. Wittstocks Buch «Februar 33. Der Winter der Literatur» stand zwischen September 2021 und Februar 2022 mehrere Wochen auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und wurde in neun Sprachen übersetzt. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung bezeichnete es als „einen großen Wurf“, die Süddeutsche Zeitung schrieb: „Die atmosphärische Dichte und die Zuneigung, die Wittstock für seine […] Figuren entwickelt, machen sein Buch zu einer Art emphatischer Geschichtsschreibung.“ Der Schriftsteller Pankaj Mishra nannte das Buch in der New York Review of Books als „ein gekonnt konstruiertes Kaleidoskop [..] es liest sich wie ein rasanter Roman“ und Le Monde bezeichnete es als „eine blendende chorische Erzählung“. Dagens Nyheter (Stockholm) schrieb: „Selten wurde Literaturgeschichte so anschaulich, fast filmisch beschrieben.“ Mit dem 2024 erschienenen Buch «Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur» gelang Wittstock ein erneuter großer Erfolg mit einem Sachbuch über ein Kapitel deutscher Literaturgeschichte im Exil, das von der Literaturkritik äußerst positiv aufgenommen wurde.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Uwe Wittstock aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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