Juli Zeh: Unterleuten

Romane lese ich ja eher selten. Wenn, dann greife ich gerne auf bekannte Autoren zurück, in diesem Fall auf Juli Zeh. Ihr Roman «Unter Menschen», der mir in Stil und Erzählweise gefallen hatte, führte zum Griff zu einem weiteren Buch von ihr. Allerdings kein ganz neues Werk, sondern schon aus 2016. Die Geschichte spielt wieder in der Brandenburgischen Landidylle, die in Wirklichkeit keine Idylle ist. Wieder geht es um ein Dorf, mit Einheimischen und Zugewanderten, mit der ganz eigenen Dorfgeschichte. Jedoch um keine einzelne Person, die aus einer Ich-Perspektive erzählt, sondern um eine Sicht eines Erzählers. Um die Gegensätze zwischen Alteingessenen und  neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit der Selbstgerechtigkeit und Arroganz der Wessis und wenig Sensibilität in alle Fettnäpfchen der Provinz latschen. Da geht es auch noch um den untergründig schwelenden Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Über der Geschichte steht quasi als Leitlinie ein invertiertes Zitat aus dem Faust, das lautet: „Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft“. Dass ein idyllisches Dorf genauso die Hölle sein kann, zeigt sich durch Pläne für den Bau einer Windkraftanlage nahe dem Dorf Unterleuten. Ein Phantasieort, in der Verfilmung ein Dorf im Märkisch-Oderland. Insgesamt mehr als 18 erwachsene Personen, teils lebendig, teils verstorben, sind die Besetzung. Was es am Anfang nicht einfach macht, der Story zu folgen. Doch gerade die Interaktionen und Beziehungen zwischen all den Menschen machen den Reiz der Geschichte aus. Eine wirklich gelungene Geschichte.

Juli ZehUnterleuten

Unterleuten

Unterleuten

Die gesamte Story ist zu vielschichtig und kompliziert, um sie hier in Gänze zu erzählen. Eine Zusammenfassung der Details des Buches hat Wikipedia. Dreh- und Angelpunkte sind Rudolf Gombrowski, der aus einer alteingesessenen Familie mit großem Grundbesitz stammt, sowie Kron. Kron war als Jugendlicher an den gewalttätigen Ausschreitungen gegen Gombrowskis Familie beteiligt, die in der DDR Widerstand gegen die Kollektivierung ihres Grundbesitzes leisteten. Nach 1990 privatisierte Gombrowski die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft über die Treuhand. Als alleiniger Geschäftsführer mit 70 Prozent der Gesellschaftsanteile. Als Kron diesen Plan vereiteln wollte, lockte Gombrowski ihn in den Wald, während ein schweres Gewitter tobte. Dort sollte sein Handlanger Bodo Schaller Kron einschüchtern. Doch während eines Handgemenges zwischen Kron und Schaller wurde der mit Kron gekommene Erik Kessler durch Bltzschlag von einem schweren Ast erschlagen. Schaller bekam die Oberhand, zerschmetterte Krons Bein mit einer Eisenstange, so dass dieser seitdem hinkt. Bei einem Motorradunfall erlitt Schaller später einen Gedächtnisverlust. Das Unternehmen „Vento Direct“ beabsichtigt, neben dem Dorf einen Windpark zu errichten. Dafür kommen zwei Areale in Frage. Das eine, ein Waldstück, gehört Kron. Vom zweiten, der Schiefen Kappe, gehört ein großes Stück Rudolf Gombrowski, ein weiteres dem Spekulanten Konrad Meiler aus Ingolstadt. Das kleine Grundstück dazwischen haben Linda Franzen und ihr Lebensgefährte Frederik zusammen mit einer alten Villa erworben, als sie nach Unterleuten gezogen sind. Ohne es zu wissen.

Weitere wichtige Protagonisten sind Linda Franzen, die aus der gekauften Villa einen Pferdehof machen will, um ihren geliebten Hengst Bergamotte nach Unterleuten holen zu können. Dafür braucht sie zum einen eine Baugenehmigung, gegen die der Beauftragte der Naturschutzbehörde Einspruch erhoben hat. Das ist Gerhard Fließ, gescheiterter Berliner Wissenschaftler, sowie seine Frau Jule. Zum anderen braucht Linda für die Pferdekoppeln ein angrenzendes Grundstück, das dem Investor Konrad Meiler gehört. Dann spielen Krons Tochter Kathrin, der ehemalige LPG-Mitarbeiter und nun Bürgermeister Arne Seidel, Gombrowksis frühere Geliebte Hilde, oder die Verwaltungsfachkraft Betty in Gombrowskis heutige Firma Ökologika wesentliche Rollen. Der Plan zum Bau einer Windkraftanlage bringt das komplette Dorf in Aufruhr. Es bilden sich zwei Fronten, eine für und eine gegen das Projekt. Für den Streit aber spielen schon längst vergangene Tage den Hintergrund. Der ewige Zwist zwischen Gombrowski und Kron, die unselige Geschichte mit dem Tod von Kessler, alte Rechnungen, Verpflichtungen und Schuldigkeiten. Die ganze Geschichte eskaliert derartig, dass am Ende Kindesentführung, tätliche Angriffe und Verleumdungen Mittel der Wahl werden. Am Ende steht jedoch keine Einigung oder wenigstens ein Kompromiss, sondern das Dorf zerlegt sich, die lange Geschichte Unterleutens kommt zu einem bitteren Ende. Erst jetzt kommen die Einzelheiten vollständig ans Licht, in dem fast alle nicht mehr besonders gut aussehen. Es zeigt sich, dass die viel gelobte alte Dorfgemeinschaft in Wahrheit ein ewiger Kampf jeder gegen jeden war. Wo jeder in seinem eigenen Kosmos lebte, in dem nur er von morgens bis abends immer recht hatte. Das Dorf Unterleuten als Sinnbild unserer heutigen diversifizierten und vielschichtigen Gesellschaft.

Was den Roman so faszinierend macht, sind die Geschichte selbst, die hohe Komplexität, die der Wirklichkeit entspricht, die Vielfalt der Personen und ihre Charaktere, nicht zuletzt Zehs Art zu erzählen, und wie sie zu literarischer Hochform aufläuft. Man spürt förmlich, wie sie an einzelnen Abschnitten und Sätzen gefeilt hat. Zudem verleiht sie der Geschichte immer wieder Wendungen, unerwartete Schnitte, Perspektivwechsel und versteckte Kommentare des Erzählers. Obwohl ich kein Fan von Romanen bin, habe ich wenige Bücher gelesen, die in Sprache und Stil so vielseitig und farbig sind. Vielleicht «Das Parfum» oder «Der Name der Rose», oder die Werke von Erich Kästner. Juli Zeh zählt nicht ohne Grund zu den meist geschätzten Autorinnen unserer Zeit, die vielen Preise hat sie nicht ohne Grund eingeheimst. «Unterleuten» setzt etwas leserische Kondition voraus, die vielen Personen und ihre Rollen behält man erst nach einiger Zeit im Kopf. Danach mag man das Buch kaum aus der Hand legen. Ein toller Roman, eine perfekte Geschichte, eine ganz große Reise in ein Ostdeutschland nach der Wende.

Juli Zeh (bürgerlich Julia Barbara Finck geborene Zeh; * 30. Juni 1974 in Bonn) ist eine deutsche Schriftstellerin, Juristin und ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg. […] 2010 wurde Zeh an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken zum Dr. iur. promoviert. Ihre Dissertation behandelt die Rechtsetzungstätigkeit von UN-Übergangsverwaltungen. Sie wurde dafür mit einem Deutschen Studienpreis der Hamburger Körber-Stiftung ausgezeichnet. Sie ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und der Freien Akademie der Künste in Hamburg. […] Neben ihrer literarischen Arbeit betätigt sich Juli Zeh auch journalistisch. Sie schreibt u. a. Essays für „Die Zeit“ und die „FAZ“. Von Mai bis Oktober 2014 verfasste sie (im regelmäßigen Drei-Wochen-Wechsel mit Jakob Augstein und Jan Fleischhauer) die Kolumne «Die Klassensprecherin» im „Spiegel“. Für die Pioneer AG von Gabor Steingart moderiert sie einen literarischen Podcast. […] Im März 2021 erschien der Roman «Über Menschen», der wie «Unterleuten» wieder im ländlichen Brandenburg angesiedelt ist. Die Hauptfigur, die Werbetexterin Dora, verlässt ihren Freund Robert und zieht im März 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie von Berlin-Kreuzberg in ein altes Haus mit 4000 Quadratmetern verwilderter Brachfläche in Dorfrandlage von Bracken/Prignitz: „Eine botanische Katastrophe, die sich durch Doras Anstrengung in einen romantischen Landhausgarten verwandeln soll. Mit Gemüsebeet. Das ist der Plan.“ Inhaltlich geht es um einen Vergleich zwischen Stadt- und Provinzmenschen und über moralische Selbstüberhöhung. Die Autorin lieferte damit einen Coronazeit-Selbsterkenntnis-Roman.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Juli Zeh aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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