Tim Engartner: Raus aus der Bildungsfalle
Das letzte Kapitel des Buches beginnt Tim Engartner so: „In regelmäßigen Abständen wird die Bildungskatastrophe entdeckt, beschworen, diskutiert – und wieder vergessen. Und von Jahr zu Jahr werden die Versäumnisse schwerwiegender. Wenn wir nicht auf den endgültigen Kollaps unseres Bildungswesens warten wollen, müssen wir endlich handeln.“ Berichte in den Medien über unsere Schulen und Hochschulen, über die Bildung der Kinder und alles, was mit diesen Themen zusammen hängt, hört man eigentlich jeden Tag im Radio oder liest es an allen Ecken. Verdreckte Toiletten, zerbröselnde Turnhallen und Schwimmbäder. 25% der Kinder können beim Wechsel auf die weiterführende Schule nicht wirklich lesen und schreiben. Leere Kassen bei Kommunen und Ländern, Grundschulkinder, die mehrere Stunden des Tages am Handy verbringen und Klassen mit einem Migrantenanteil von 90% in Brennpunktschulen. Probleme also zuhauf. Was fällt den Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft ein? Elektronische Gadgets und ChatGPT sollen alle Probleme lösen. Also stopfen sie Tablets in die Klassenzimmer, Meta, Alphabet und Microsoft liefern kostenlose Lernsoftware. Natürlich nicht ohne Hintergedanken. WLAN-Netze sowie IT-Dienste dürfen die Schulen dann gefälligst selbst stemmen. An den Unis nicht besser, immer mehr Studierende in riesigen Hörsälen, in die immer noch nicht alle Studienanfänger passen. Von denen die Hälfte bald wieder wechselt oder aussteigt. Doch wie schlimm es um die Schullandschaft in Deutschland wirklich bestellt ist, fasst Tim Engartner in diesem Buch zusammen. Kurzes Résumé: Es ist erschreckend, wie wir mit unseren Kindern umgehen. Und mit Deutschlands Zukunft.
Keine wissenschaftliche Arbeit, sondern eine journalistische Zusammenfassung der vielen Studien und Analysen, die in der Gesamtsicht ein Bild ergeben, das beinahe fassungslos macht. Weil es nicht einen oder zwei Gründe gibt, sondern eine Art kollektives Versagen unserer Politik. Es ist gerade nicht die Digitalisierung der Schulen, wenn diese auch zur Misere viel beiträgt. Wobei Engartner zeigt, dass der Glaube an das Heil in Wikipedia und YouTube die Lage eher noch verschlimmert hat. Nicht ohne Grund geht Schweden, ein Vorreiter in Sachen digitale Schule, wieder zu Büchern und Handschrift zurück. Weil man dort festgestellt hat, dass die Konzentrationsfähigkeit und das Lernvermögen seit der Digitalisierung in der Schülerschaft enorm abgenommen hat. Doch die Liste, warum Schulen, und Hochschulen, in Deutschland inzwischen so drastisch versagen, ist lang und teilweise peinlich. Während zum Beispiel in Estland oder Finnland eher die besten Abiturienten und Abiturientinnen sich dem Lehrberuf zuwenden und ein strenges Auswahlverfahren durchlaufen müssen, zeichnen sich laut Studien viele werdende Lehrerinnen und Lehrer in Deutschland durch mangelndes Selbstvertrauen und geringe Kommunikationsfähigkeit aus. Es ist nicht nur der Mangel an Lehrerinnen und Lehrern, es sind auch die Belastungen durch pöbelnde, auf der Straße sozialisierte Jugendliche und ständige fachfremde Anforderungen, die den Krankenstand in schwindelnde Höhen treiben. Trotz guter Bezahlung und reichlich Annehmlichkeiten im Vergleich zu den Nachbarländern ist es hier nicht attraktiv vor einer Klasse zu stehen.
Alternativen könnten, so glauben gerade betuchte Eltern, Privatschulen und Ersatzschulen wie Waldorf und Montessori sein. Der schiere Glaube täuscht, zwar nimmt die Zahl der Privatschulen in kirchlicher oder privater Hand zu. Doch keineswegs garantieren sie bessere Leistungen oder Sozialisation. Zwar schreiben sich Privatschulen das humanistische Bildungsideal gerne auf die Fahnen, legen in der Tat mehr Wert auf intellektuelle und soziale Bildung. Doch von Eton oder Salem sind sie so weit entfernt wie eben London und der Bodensee von Berlin. Obwohl gerade diese Schulen, mit Schulgeldern im sechsstelligen Bereich, vormachen, was Schule sein sollte: Vorbereitung nicht nur wie bei uns auf den Beruf, sondern auch auf Gesellschaft, Persönlichkeit und individuelle Entwicklung. Diese erreicht man wohl kaum, indem man bei uns Unternehmen und Wirtschaftsverbänden die Klassentüren offen stellt. Die dann Unterrichtsmaterial, bevorzugt digital, in die Klassen werfen und sich ihre zukünftigen Kunden und Mitarbeiter sichern. Denn im Gegensatz zu Schulbüchern unterliegen diese Werbemittel keinerlei Qualitätskontrolle. Nicht ohne tiefere Absicht bieten Google und Apple Aus- und Fortbildungen für Schülerschaft und Lehrerschaft. Sogar Amazon mischt sich inzwischen in einigen Bundesländern in den Unterricht ein. Überhaupt hat Schule heute nur noch wenig mit Bildung zu tun.
Um es ganz plakativ zu sagen, ist es mindestens erschütternd, wenn man sich mit diesem Buch das Gesamtbild unserer Bildungslandschaft zu Gemüte führt. Was das Buch auszeichnet, ist das breite Bild, das durch die Zusammenfassung bestehender Erkenntnisse entsteht. Leider liegen viele Probleme ganz tief in Deutschland vergraben. Wie die föderale Struktur unseres Bildungswesens, die für eine halbwegs ausreichende Finanzierung der Schulen und Hochschulen kontraproduktiv ist. Auch das frei flottierende Navigieren der Politik konterkariert sämtliche Bemühungen, unsere Schulen an die Wirklichkeit anzupassen. Nicht mehr die Bereitstellungen von Malochern in Fabrikhallen ist in Deutschland erste Priorität, wie vor 50 Jahren. In einem sich deindustrialisieren Land braucht es kreative, selbstverantwortliche, reflektierte und selbstkritische Menschen. So die Botschaft von Tim Engartner. Doch bei diesem Ziel versagen unsere Schulen in unverantwortlicher Weise. Nicht weil unsere Schulen grundsätzlich schlecht wären, sondern weil ihnen die Politik ständig eine angemessene Finanzierung und Struktur verweigert. Während für Opernhäuser und riesige Museen in Hamburg, Köln oder Berlin Unsummen ausgegeben werden. So dass bald kaum noch Menschen da sind, für die Kultur und Bildung eine Rolle spielen, die lieber wie ihre Eltern 197 Minuten am Tag vor irgendeinem Bildschirm hängen.
Wer im Detail wissen möchten, was in unseren Schulen so drastisch daneben geht, und warum, ist mit diesem Buch bestens bedient. Es erfordert jedoch Nerven, der Realität ins Auge zu sehen.


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