Juli Zeh: Über Menschen

Romane kommen mir eher selten in die Hände. Es sei denn, das Bücherbudget für den Monat ist aufgebraucht, der vierte Band von Precht zur Philosophie ist zu teuer und das örtliche Sortiment zu überschaubar. Obwohl eher zweifelhafte Orientierung, ließ mich dann die Position in der Spiegel-Bestsellerliste zu diesem Buch greifen. Was ich am Ende nicht bereut habe. Es war mein erstes Buch von Juli Zeh, aber es lässt mich in Zukunft vielleicht doch wieder zu dieser Autorin greifen. Der Plot ist eher überschaubar. Die Werbetexterin Dora kauft ein altes Gutshaus in Brandenburg, trennt sich von ihrem Freund Robert in Berlin und lässt sich mit ihrer Hündin Jochen in einem Dorf in der brandenburgischen Einöde nieder. Während sie mit einem riesigen verwilderten Grundstück kämpft, lernt sie nach und nach ihre Nachbarn kennen. Zuerst eine eher unangenehme Figur, den glatzköpfigen Dorf-Nazi Gote, danach Herrn „Heini“ Heinrich, der am Anfang R2-D2 heißt. Es folgt das schwule Paar Tom und Steffen. So deutlich die Schubladen, in die sie diese Menschen einsortieren könnte, so undeutlich werden sie im Lauf der Geschichte.

Juli ZehUnter Menschen

Während Gote mit seinen braunen Kumpanen im Garten das Horst Wessel-Lied schmettert, Heini mit einer Batterie an Makita-Werkzeugen im Handumdrehen Bäume und Unkraut im Garten erledigt, betreiben Tom und Steffen eine Manufaktur für Blumengestecke. Während Dora noch in erstem Zweifel über ihre Absichten und Aussichten nachdenkt, verliert sie ihren Job in Berlin, den sie während Corona im Home-Office erledigt. Nur wenige weitere Menschen kommen zur Geschichte hinzu. Ihr Vater Jojo, der Neurochirurg, Franzi, die verwahrloste Tochter von Gote und Leute aus dem Dorf. Je mehr sie mit diesen Menschen erlebt, sich ihre vielen Facetten zeigen, desto schwieriger fällt das Einsortieren der Menschen. Der Nazi ist nicht tumb und immer brutal, sondern kann auch Empathie und viel Nachbarschaftshilfe. Der Technikfreak Heini hat als Frau eine Pastorin. Schwule sind nicht immer nur freundlich und sanft, sondern wie alle Menschen genauso mal giftig und sogar aggressiv. Alle Stereotype lösen sich mit der Zeit auf, übrig bleiben Menschen in ihrer Vieldeutigkeit. Selbst Dora verändert sich, ihre hippe Vergangenheit in Berlin, ihre berufstypische Hektik und Unruhe, die in die Persönlichkeit streuen, verlieren ihren Wert und ihre Bedeutung. Doch zur Idylle wird die Flucht aufs Land nicht. Was sich Leute in der Großstadt als Landleben vorstellen, hat mit der Wirklichkeit wenig zu tun. Und so nimmt die Geschichte ihren Lauf, der am Anfang des Buches nicht zu ahnen ist.

Juli Zeh bezeichnet das Buch als Selbstreflektion, die Geschichte spielt 2020 während der Pandemie. Mir ging es während des Lesens oft so wie der Autorin. Wie weit stimmen denn die Zuordnungen und Einordnungen, die Prädikate, die wir den Menschen in unserer Umgebung anhängen? Der Nazi und der Freak, die nur aus Freundlichkeit, nicht aus einem Zweck, das verfallene Haus reparieren. Die verstörte Franzi, die erst als Fall fürs Jugendamt aussieht, sich aber gar nicht als verloren fühlt und in Doras Nähe sogar aufblüht. Der Schwule mit dem AfD-Aufkleber am Briefkasten. Je weiter die Geschichte fortschreitet, desto klarer wird, dass Menschen eben nicht so eindimensional sind, wie wir gerne glauben. Daraus gewinnt Juli Zehs Geschichte eine Faszination, die durch eine lebendige, bunte, manchmal marodierende Sprache noch verstärkt wird. Obwohl in einigen Momenten etwas arg plakativ, versucht diese Geschichte sich der Wirklichkeit von einer anderen Sichtweise anzunähern. Bücher sind manchmal nur eine Art Zeitvertreib. Dieses Buch ist mehr, es ist ein Infragestellen gewohnter Denkmuster und bequemer Stereotype. Es ist das, was passiert, wenn man sich ernsthaft und aufmerksam unter Menschen begibt. Sehr lesenswert.

Juli Zeh (bürgerlich Julia Barbara Finck geborene Zeh; * 30. Juni 1974 in Bonn) ist eine deutsche Schriftstellerin, Juristin und ehrenamtliche Richterin am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg. […] 2010 wurde Zeh an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken zum Dr. iur. promoviert. Ihre Dissertation behandelt die Rechtsetzungstätigkeit von UN-Übergangsverwaltungen. Sie wurde dafür mit einem Deutschen Studienpreis der Hamburger Körber-Stiftung ausgezeichnet. Sie ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland und der Freien Akademie der Künste in Hamburg. […] Neben ihrer literarischen Arbeit betätigt sich Juli Zeh auch journalistisch. Sie schreibt u. a. Essays für „Die Zeit“ und die „FAZ“. Von Mai bis Oktober 2014 verfasste sie (im regelmäßigen Drei-Wochen-Wechsel mit Jakob Augstein und Jan Fleischhauer) die Kolumne «Die Klassensprecherin» im „Spiegel“. Für die Pioneer AG von Gabor Steingart moderiert sie einen literarischen Podcast. […] Im März 2021 erschien der Roman «Über Menschen», der wie «Unterleuten» wieder im ländlichen Brandenburg angesiedelt ist. Die Hauptfigur, die Werbetexterin Dora, verlässt ihren Freund Robert und zieht im März 2020 zu Beginn der Corona-Pandemie von Berlin-Kreuzberg in ein altes Haus mit 4000 Quadratmetern verwilderter Brachfläche in Dorfrandlage von Bracken/Prignitz: „Eine botanische Katastrophe, die sich durch Doras Anstrengung in einen romantischen Landhausgarten verwandeln soll. Mit Gemüsebeet. Das ist der Plan.“
Inhaltlich geht es um einen Vergleich zwischen Stadt- und Provinzmenschen und über moralische Selbstüberhöhung. Die Autorin lieferte damit einen Coronazeit-Selbsterkenntnis-Roman.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Juli Zeh aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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  1. […] ihren Roman «Über Menschen» war ich zum ersten Mal mit Juli Zeh in Kontakt gekommen. Nach einigen eher schwergewichtigen […]

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