Nicola Gess: Halbwahrheiten

Donald Trump erzählte einmal, der deutsche Golfer Bernhard Langer hätte ihm berichtet, wie er vor einem Wahllokal in den USA 2016 merkwürdige Vorgänge beobachtet habe. Dazu befragt, sagte Langer, dass er Trump niemals persönlich getroffen hätte. Zwar konnte Langer sich daran erinnern, mit Leuten über die Ungerechtigkeit des amerikanischen Wahlsystems gesprochen zu haben, aber niemals mit Donald Trump. Ein typisches Beispiel für Halbwahrheiten, denen sich Nicola Gess in ihrem Essay widmet. Wie der Name schon sagt, sind Halbwahrheiten keine Lügen. Stattdessen werden Fakten aus dem Zusammenhang gerissen, verfälscht oder in einen anderen Kontext gesetzt, so dann uminterpretiert. Der Unterschied mag marginal erscheinen, doch die Wirkung von Halbwahrheiten ist verheerend. Wie im Buch zu lesen, sind Halbwahrheiten gefährlicher als Lügen, weil nicht mehr klar erkennbar ist, was noch Fakt und was Fiktion. Das Thema hat jedoch in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung zugelegt, weil Identitäre, Rechtspopulisten bis hin zu Rechtsextremen diese Kommunikationsform ausgiebig nutzen. Weil die Wirkung von Halbwahrheiten umso größer ist, je stärker sie die schon vorhandenen Überzeugungen belegen. Wie auch immer bezeichnet, als Halbwahrheiten, alternative Fakten, oder als Bullshit.

Insgesamt kann man Gess‘ Essay in drei Abschnitte teilen. Sie beginnt mit einer ausgiebigen philosophischen Betrachtung dessen, was Lügen und Halbwahrheiten kennzeichnet und was ihre Funktionen und Wirkungen sind. Leider fehlt im Vorwort ein Warnhinweis, denn Gess fängt mit vielen Bezügen zu Habermas, Adorno und Arendt an. Wenn man sich gerade einliest, kann man hier leicht stecken bleiben und das Buch zur Seite legen. Leider. Denn wozu sie diesen Ausflug in die Philosophie macht, wird erst später verständlich, wenn sie drei Beispiele für das Navigieren mit Halbwahrheiten ausführlich beschreibt: Das Lügengebäude eines Claas Relotius, die Phantasiewelt des Ken Jebsen, Gallionsfigur der Querdenker, und die merkwürdige Entwicklung, wenn nicht gar Entgleisung des deutschen Schriftstellers Uwe Tellkamp. Gerade der Fall Relotius zeigt, warum in diesem Zusammenhang Halbwahrheiten so schwer durchschaubar sind. Nämlich weil viele Leute davon profitiert haben. Der Spiegel als journalistisches Medium und journalistische Kaderschmiede, die Leser hatten am Ende der Geschichten mit einem kleinen Happyend ein gutes Gefühl, Relotius konnte hochstapeln und sich wichtig machen. Ken Jebsen wiederum, mit seinem Kanal KenFM, ist die politische Seite der alternativen Fakten. Wie zu erwarten, bedient er sein Publikum mit einer kruden Mixtur aus umgedeuteten Zitaten und Fakten gepaart mit Verschwörungstheorien. Der Fall Uwe Tellmann demonstriert, wie aus einzelnen Vorkommnissen Bedrohungsszenarien konstruiert werden, wo die Freiheit der Meinung Ausschluss des Widerspruches beinhaltet. Wo angeblich eine Gesinnungsdiktatur entsteht und der Untergang der Demokratie droht. Alle drei Beispiele sind perfekt gewählt, um zu zeigen, wie Halbwahrheiten schlimmer noch als Lügen Demokratie und Solidarität untergraben.

Erst am Ende des Buches wird deutlich, warum Nicola Gess die Gefahr in der Verdrehung von Tatsachen als so wesentlich sieht. Halbwahrheiten suchen nicht Wahrheiten, sondern wollen nur Plausibilität erreichen, der Empfänger fühlt sich in seinen eigenen Überzeugungen bestätigt. Das reicht. Weder müssen nun Aussagen geprüft, Abläufe recherchiert oder Zusammenhänge geklärt werden. Denn die Halbwahrheiten beruhen ja auf Fakten, wenigstens zum Teil. Diese Funktionalität wird im Buch sehr gut sichtbar, leider werden die theoretischen Betrachtungen am Anfang erst später verständlich. Daher ist das Buch etwas beschwerlich lesbar, macht aber die Attacken auf die Demokratie, wie bei Trump, Höcke oder Boris Johnson, sichtbar und in ihrer Wirkung verständlich.

Nicola Gess (* 16. August 1973 in Bielefeld) ist eine deutsche Literaturwissenschaftlerin und Professorin für Germanistik an der Universität Basel. […] An der Universität Basel leitete Nicola Gess zunächst das Forschungsprojekt «Die Visualität der Barockoper» am Nationalen Forschungsschwerpunkt Eikones und das SNF-Sinergia «Poetik und Ästhetik des Staunens». Seit 2018 leitet sie an der Universität Basel das SNF-Sinergia „The Power of Wonder“ (Co-Leitung) und seit 2019 das SNF-Forschungsprojekt „Halbwahrheiten. Wahrheit, Fiktion und Konspiration im ‚postfaktischen Zeitalter‘“. Darüber hinaus war sie bis 2020 Mitglied des EU-COST Research Networks Comparative Analysis of Conspiracy Theories in Europe und bis 2016 Mitglied des DFG-Netzwerks Hör-Wissen im Wandel. Gess’ Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Intermedialitätsforschung (Literatur/Musik, Sound-Studies), auf dem Feld der Ästhetik und Poetik (v. a. Arbeiten zur Poetik des Staunens), sowie in der Erforschung des Literarischen Primitivismus und der Interferenzen von Literatur, Ethnologie und Psychologie im frühen 20. Jahrhundert. Seit 2017 setzt sich Gess auch verstärkt mit literatursoziologischen Fragestellungen auseinander. Über ihr Buch «Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit» (2021), das den «postfaktischen» Diskurs mit Methoden der Narratologie und Fiktionstheorie untersucht, schrieb Gregor Dotzauer im Tagesspiegel: «Die Halbwahrheiten demonstrieren, wozu eine im Wettbewerb der Disziplinen manchmal für obsolet erklärte Literaturwissenschaft in diesen politisch aufgeheizten Zeiten in der Lage ist». Im Anschluss an ihr Buch wurde Gess auch wiederholt als Expertin für Postfaktizität und Verschwörungstheorien eingeladen, z. B. auf Veranstaltungen des Deutschen Hygiene Museum Dresden, der Sendung Breitband (DLF Kultur), den Laboren des Zusammenlebens (Kulturstiftung des Bundes) und den Herrenhäuser Gesprächen von NDR Kultur und Volkswagen-Stiftung.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Nicola Gess aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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