Andreas Wirsching: Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert

An den Umfang des Wälzers von Golo Mann, „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts“ kommt Andreas Wirschings Buch nicht einmal annähernd heran. Soll es auch nicht. Wirschings Anspruch ist es, die Grundzüge der Entwicklung Deutschlands, politisch und sozial, vom Kaiserreich über Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung Deutschlands aufzuzeigen. Es geht also nicht um alle Details, alle Daten und eine Vielzahl von Beteiligten, sondern um ein Grundverständnis des deutschen Weges in die Moderne. Sozusagen ist es vergleichende Geschichte, die den nicht ganz so langen Weg beschreibt, bis Deutschland dort ankam, wo Nationen wie Frankreich und Großbritannien mit ihrer langen Vergangenheit, ihren Traditionen und Selbstgewissheiten halt zeitlich im Vorteil sind und waren. Nicht umsonst heißt das erste Kapitel des Buches „Ein deutscher Sonderweg in das 20. Jahrhundert?“, mit einem Fragezeichen am Ende. Das Buch will ein grundsätzliches Verständnis dafür wecken, wie und warum Deutschland heute so und nicht anders aufgestellt ist. Dass die Gegenwart immer eine logische Konsequenz der Vergangenheit sein muss. Selbstverständlich ist Wirsching profunder Historiker, Interpretationen oder Vermutungen haben bei ihm nichts verloren, wissenschaftliche Fakten zählen. Und sind diese nicht oder noch nicht vorhanden, schreibt es das auch so. Ja, es ist ein wissenschaftliches Buch, trotzdem gut zu lesen, gut zu verstehen. Man fragt sich am Ende nur, was Reichsbürger, Rechtsradikale und Verschwörungstheoretiker da geraucht haben. Denn nicht ohne Grund ist das Buch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen. Wie üblich bei solchen Büchern, lesen es aber immer die Falschen.

Andreas WirschingDeutsche Geschichte im 20. Jahrhundert

Wenn man von der Chronik der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert spricht, sind die wesentlichen Eckpunkte klar. Kaiserreich, erster Weltkrieg, Weimarer Republik, Nazi-Diktatur, zweiter Weltkrieg, Kapitulation, Teilung, Wirtschaftswunder, Wiedervereinigung, der Übergang zur Globalisierung und Digitalisierung. Genau an diesen Fahrplan hält sich Wirsching. Ziel seiner Darstellung ist aber nun nicht ein akribisches Nachverfolgen, wer wann was getan oder nicht getan hat. Es geht ihm darum, die historischen und politischen Gründe verständlich zu machen. Dabei beantwortet er, so ganz nebenbei, viele grundlegende Fragen, die man zwar im Kopf hat, aber nie so ganz die Antworten parat. Warum es zum ersten Weltkrieg kam, woran die Weimarer Republik scheiterte,  wie und mit welchen Methoden die Nationalsozialisten die deutsche Nation übernahmen. Über die Rolle der Wehrmacht im Dritten Reich, was denn nun dran war, dass angeblich fast alle Deutschen nichts von den Verbrechen der Nazis mitbekommen haben. Zuletzt umreißt er die Entwicklungen nach Kriegsende, den Aufstieg der Bundesrepublik, die innen- und außenpolitischen Fragen dieser Zeit. Bis eben zum Übergang zu einem wiedervereinigten Deutschland. Dabei bekommt die Zeit bis 1945 den größten Anteil im Buch. Und genau dort liegt auch der Wert, zu verstehen, wie es in Deutschland zu den verqueren Entwicklungen kam. Die dann 1945 fast zum Untergang geführt haben. Es geht Wirsching um ein Bewusstsein für Geschichte, um ein ordentliches, belastbares Grundverständnis.

Dazu braucht man eben nicht 800 Seiten, wie Golo Mann. Trotzdem verzichtet Wirsching an den wichtigen Stellen nicht auf Details, es ist kein oberflächliches Buch. Das Ziel ist ein anderes als bei Golo Mann, Andreas Wirsching möchte eine historische Basisausbildung liefern, für die man nicht das Stehvermögen wie für die Wälzer mit ausufernden Einzelheiten braucht. Das klappt sogar erstaunlich gut. Zwar würde ich das Buch nicht in die Schublade einfachen Lesestoffs packen, doch es ist verständlich, abschnittsweise sogar spannend und bietet reichlich Aha-Effekte. Vielleicht die optimale Wahl für junge Leute, denen man vermitteln möchte, warum sie in genau dieser Nation leben und wie es dazu gekommen ist. Knapp, lesenswert und verständlich.

Andreas Wirsching studierte von 1977 bis 1984 Geschichte und Evangelische Theologie an den Universitäten Berlin und Erlangen. 1984 erwarb er den Magister. Im selben Jahr erhielt er ein Stipendium der Bayerischen Graduiertenförderung und 1985 des Deutschen Historischen Instituts London. Im Jahr 1988 wurde er an der Universität Erlangen promoviert. Wirsching war Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Historischen Institut Paris (1989–1992) und am Institut für Zeitgeschichte in München (1992–1996). Im Jahr 1995 erfolgte seine Habilitation in Neuerer und Neuester Geschichte an der Universität Regensburg. Von 1996 bis 1998 lehrte er als Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas an der Universität Tübingen. […] Wirschings Forschungsschwerpunkte sind die vergleichende deutsche und französische Geschichte im 20. Jahrhundert, die Geschichte von Paris in der Neuzeit, die Geschichte der Weimarer Republik, die Geschichte des Kommunismus, des Faschismus und Nationalsozialismus in der Zeit von 1918 bis 1945, die deutsche und europäische Geschichte nach 1945 sowie die Geschichte und Theorie der Moderne. Für die Enzyklopädie deutscher Geschichte veröffentlichte er 2000 einen Band über die Weimarer Republik. In seiner 2012 veröffentlichten Darstellung Geschichte Europas in unserer Zeit geht er der Frage nach, „wie sich in dem zusammenwachsenden Europa Freiheitsgewinn und neues Risiko zueinander verhalten“. Nach seiner „Kernthese“ folgt die Gegenwartsgeschichte Europas einem „mächtigen historischen Trend zur Konvergenz“. Im Mittelpunkt des Buches steht das vierte Kapitel über die „Herausforderung der Globalisierung“, die Wirsching als „immense quantitative Steigerung im Kern bereits bekannter Phänomene […] in einer zuvor ungekannten Dynamik“ beschreibt. Seit 2013 leitet Wirsching zusammen mit dem Theologen Hubert Wolf die auf zwölf Jahre angelegte Herausgabe der Tagebücher von Michael Kardinal von Faulhaber. Mit Jürgen Finger und Sven Keller legte er 2013 eine unternehmenshistorische Monografie zu Dr. Oetker vor. Er veröffentlichte 2015 eine Geschichte Europas seit 1989. Darin vertrat er die These, dass trotz des von der Globalisierung noch verstärkten „strukturellen und auch krisenhaften politischen Wandels“ von „fortbestehender Stabilität, Vitalität und Erneuerungsfähigkeit der Demokratie“ auszugehen sei.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Andreas Wirsching aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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  1. […] in diesem Thema bin, kann ich mir das nächste Buch gleich noch vornehmen. Nach Andreas Wirschings Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts der Fokus nun auf die Zeit von 1933 bis 1945. Wobei ich mich mittlerweile immer mehr auf Geschichte […]

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