Carlo Masala: Weltunordnung

Als 1990 die Berliner Mauer fiel und das Ende der Sowjetunion absehbar war, war es nicht nur das Ende des kalten Krieges zwischen den beiden großen Machtblöcken. Der Westen, also die USA und Europa, hatten sich durchgesetzt. Nicht nur durch militärische, sondern gerade durch ökonomische Überlegenheit. Mit dem Entfall der Bedrohung durch den Osten erwartete man nun, dass sich eine liberale Weltordnung etabliert, mit den wichtigsten Kennzeichen Demokratie und Kapitalismus. Heute, 30 Jahre weiter, ist die Realität eine andere. Nicht nur der Krieg ist zurück in Europa, in der Ukraine, auch der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis eskaliert, europäische Staaten wie Polen und Ungarn, zunehmend die Slowakei und Tschechien, wenden sich von der liberalen Demokratie ab. Die Weltmacht USA hat ihren großen Glanz verloren, China und demnächst Indien sind neue Player auf der Weltbühne. Der Westen, so Masala, sei gleich einer ganzen Reihe von Illusionen aufgesessen. In einem Glauben, die Welt würde sich nun immer weiter demokratisieren, Krisen und Konflikte könnten durch militärische Interventionen gelöst werden. Der peinliche Abzug aus Afghanistan, die verbrannte Erde im Irak und in Somalia erzählen eine andere Geschichte. Die Träume ab 1990 waren Wunschvorstellungen. Carlo Masala fasst die Entwicklungen seit 1990 bis heute zusammen, und zeigt, dass der Westen mit seiner Demokratie und seinen Vorstellungen einer Weltordnung nach seinem Gusto schon lange verloren hat. Die Welt ist in Unordnung geraten, eine neue Ordnung wird lange auf sich warten lassen.

Carlo MasalaWeltunordnung

Bis zum Ende der Sowjetunion war die Weltordnung tatsächlich stabil. Ein System mit zwei Polen, auf der einen Seite die USA und die NATO, auf der anderen die Sowjetunion. Die gemeinsame Bedrohung schweißte westeuropäische Staaten und USA zusammen, nichts verbindet mehr als ein gemeinsamer Feind. Was danach geschah, war nicht nur, aber hauptsächlich auf die Hybris und Selbstüberschätzung der USA und Westeuropa zurück zu führen. Denn die Veränderungen hatten Einfluss auf die gesamte Welt, nicht mehr jeder Staat wollte sich in der Außen- und Sicherheitspolitik nur noch an Nordamerika orientieren. Ein weiterer schwerer Irrtum war der, dass der Westen meinte, alle Staaten wären so so gestrickt wie die USA, Deutschland, die Niederlande oder Schweden. Das Gegenteil ist der Fall, speziell in Afrika und Südostasien sind Zugehörigkeiten zu einer Ethnie, zu einem Clan oder zu einer Glaubensgemeinschaft viel wichtiger als die geografischen Grenzen, die Kolonialmächte einmal gezogen hatten. Territorialkonflikte und Machtansprüche nichtstaatlicher Gruppen, wenn in Afrika überhaupt von Staaten zu sprechen ist, führen zu Bürgerkriegen. Milizen und Banden haben mehr Einfluss als Armeen. Manche Staaten in Südamerika sind gar keine Staaten mehr. China legte in den Achtzigern ein großes Programm auf, den technologischen und wirtschaftlichen Rückstand gegenüber dem Westen aufzuholen. Indien wuchs durch zunehmende Industrialisierung. Nun ist die Weltordnung nicht mehr bipolar, sondern multipolar. Staaten sind zerfallen, das ehemalige Jugoslawien und die ehemalige Tschechoslowakei sind beste Beispiele. Und der Westen musste lernen, dass nicht alle Menschen seine Werte und seine Normen haben wollten. Nicht zuletzt durch den ausgeübten Druck sind Gruppen wie der IS oder al-Qaida überhaupt so einflussreich geworden.

So ist die Welt in Unordnung geraten. Spürbar auch am Bedeutungsverlust ehemaliger Größen wie UNO oder EU. Die USA sind längst nicht mehr die Nummer Eins, spätestens nach Afghanistan und Irak wurde klar, dass sie ohne Plan herum lavieren, dass die angebliche Beglückung der Welt mehr den Eigeninteressen der USA diente. Osteuropäische Staaten wie Ungarn oder die Slowakei orientieren sich wieder in Richtung Moskau. Nur Polen ist noch nicht verloren. Selbst innerhalb eigentlich stabiler Staaten rumort es. Etablierte Medien sind auf dem Rückzug, der Staat hat sein Meinungsmonopol an die sozialen Medien verloren, nicht mehr die Tagesschau bestimmt den Diskurs, sondern Facebook. Vielleicht ist diese Weltunordnung eine Erklärung, warum so viele Menschen sich zu Rechtspopulisten und Esoterikern durchschlagen. Weil die Welt so unübersichtlich und verwirrend geworden ist, dass Leute es einfach wieder gerne simpel haben wollen. Marsala beschreibt sowohl den Werdegang als auch den aktuellen Status dieser Entwicklung. Eine nicht ganz einfache Aufgabe, doch er meistert sie beispielhaft. In seinem Fazit macht er jedoch nicht viel Hoffnung, dass sich die Lage bald bessert, ganz im Gegenteil. Er schließt aber auch nicht aus, dass sich im Laufe der Zeit ein neues Gleichgewicht einstellt. Doch dieses wird ganz anders aussehen als die Welt in den Siebzigern und Achtzigern, als es doch sehr überschaubar war. Trotz drohenden Nuklearschlägen und Säbelrasseln auf den beiden Seiten. Das ist immer noch so, gleichzeitig ist eine nuklearer Auseinandersetzung noch immer in weiter Ferne.

Masala schafft es, in seinem Buch die historischen, politischen und kulturellen Aspekte der Entwicklungen in den letzten 30 Jahren in der Welt nachzuvollziehen, was schief gelaufen ist und warum. Das in einem verständlichen, informativen und interessanten Stil, ohne verwirrende politische Fachsprache. Es gibt nicht viele Bücher, die ich am Ende zugeschlagen habe und das Gefühl hatte, etwas gelernt und verstanden zu haben. Wer sich für Politik interessiert und mehr lesen will, was politisch über die tagesaktuellen Dinge hinaus geht, wer wissen will, warum es gerade so instabil und unruhig ist, kommt um das Buch nicht herum. Erhältlich für ganz kleines Geld bei der BPB

Carlo-Antonio Masala (* 27. März 1968 in Köln) ist ein deutscher Politikwissenschaftler und Professor für Internationale Politik an der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München. […] Masala ist Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft (von 2015 bis 2017 als Vorsitzender) und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik. Er gehört außerdem seit 2009 dem wissenschaftlichen Beirat beim Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft für den gesellschaftswissenschaftlichen Anteil der Sicherheitsforschung an. Von 2010 bis 2014 gab er gemeinsam mit Stephan Stetter die Zeitschrift für Internationale Beziehungen heraus; außerdem ist er Mitherausgeber der Zeitschrift für Politik sowie von Sirius. Zeitschrift für Strategische Analysen. Seit Juli 2018 diskutiert Masala zusammen mit Thomas Wiegold (Blog augengeradeaus.net), Frank Sauer (Universität der Bundeswehr München) und Ulrike Franke (European Council on Foreign Relations) im deutschsprachigen Podcast Sicherheitshalber über Fragen der Sicherheitspolitik. Von März bis November 2022 war er im Stern-Podcast Ukraine – die Lage zum russischen Überfall auf die Ukraine zu hören. Masala leitet das Metis-Institut für Strategie und Vorausschau an der Universität der Bundeswehr München. Es bietet dem Bundesministerium der Verteidigung Beratungsleistungen an. Außerdem ist Masala seit Oktober 2020 Projektleiter des Kompetenzzentrums Krisenfrüherkennung an der Universität der Bundeswehr in München, eines Forschungsprojekts, das eine frühzeitige Identifikation krisenhafter Entwicklungen auf der ganzen Welt ermöglichen soll. Am 9. Juni 2023 wurde ihm die Lichtenberg-Medaille der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen verliehen.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Carlo Masala aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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