Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock
Ilko-Sascha Kowalczuk kann man aktuell kaum entgehen. Kowalczuk im Fernsehen, beim Deutschlandfunk, beim MDR, beim WDR, in HR2 und im Spiegel. Sein Buch «Freiheitsschock» habe ich erst in der dritten Auflage bekommen, so schnell waren die ersten beiden vergriffen. Doch er hat keinen großen Roman geschrieben, nicht mal ein dreibändiges Geschichtswerk, sondern ein Essay. Wenn man so will, einen Aufsatz, eine Betrachtung. Damit entfällt schon einmal das Attribut „objektiv“. Kowalczuk kann wohl kaum objektiv sein, in der DDR geboren und aufgewachsen, hat jedoch keine Karriere hinlegen können, weil er nicht genügend an das SED-Regime angepasst war. In diesem Buch schildert er seine Sicht, warum nach 1989 zwischen Ost und West nicht die große Verschwesterung aufkam, warum es bis heute quietscht mit der Einheit, warum Ost- und Westdeutschland nicht in wenigen Jahren zu einer homogenen Nation zusammen kamen. Es geht um die Unzufriedenheit in den neuen Bundesländern, überhaupt um die Unzufriedenheit mit Demokratie und Freiheit im Osten, die aber nicht ein reines Phänomen des Ostens ist. Denn auch in den westlichen Bundesländern erreichen AfD und neuerdings auch das BSW erkleckliche Wählerzahlen. Doch als wesentlich für die Situation im Osten sieht Kowalczuk grundlegende Missverständnisse, die im Osten über den Westen bestanden. Über das, was Freiheit und Demokratie wirklich bedeuten. Sie wollten die D-Mark, Reisefreiheit und Konsum, aber verstanden nicht, dass sie sich nun selbst um ihre Angelegenheiten kümmern mussten, ihr Leben selbst in die Hand nehmen. Als die Erziehungsdiktatur der DDR endete.
Als sich im Herbst 1989 Gruppen bildeten, die in der Nikolaikirche in Leipzig zusammen kamen, eine bessere DDR diskutierten und anschließend auf die Straße gingen, war das nicht die Mehrheit. Die stand hinter den Gardinen und wartete ab, was passierte. Doch keine sowjetischen Panzer fuhren auf, die Stasi knüppelt keine Leute nieder. Ab da wurden die Züge größer, jedoch wurde nun das gefordert, was tagtäglich über den Fernsehbildschirm lief: Der Westen, Konsum, Reisefreiheit. Miele-Waschmaschinen und französischer Wein wie in der Waldsiedlung Wandlitz. Die Volkskammerwahlen im März 1990 verliefen entsprechend, die Stimmen gingen zu denen, die blühende Landschaften und die D-Mark versprachen. Der Schock kam ab Ende 1990 auf mehreren Ebenen. Zuerst Jobverluste und Deindustrialisierung durch die Treuhand. Vorbei die Zeit der Arbeitsplatzgarantie. 95% der Leute in der DDR arbeiteten für Staatsbetriebe. Inklusive betrieblicher Kindergarten, Sportvereine, Kegelabende und Reisen nach Böhmen. Mit der Liquidierung der VEBs und LPGs endete das staatlich organisierte Sozialleben. Doch es kam schlimmer. Zwar hatte man nun die D-Mark, konnte innerhalb einer Stunde einen VW Golf kaufen und nach Italien fahren, doch der Staat war nun die Bundesrepublik. Was hieß, dass man für sich selbst Verantwortung übernehmen musste und seinen Kram komplett eigenhändig organisieren. Wenn man allerdings sein komplettes Leben so verbracht hatte, dass sich der Staat um alles kümmerte, die Preise für Brötchen und Bier künstlich niedrig hielt, die Mieten deckelte, war das kein leichtes Unterfangen im neuen Deutschland. Das hatte man sich unter Freiheit anders vorgestellt. Das gibt man auch an Kinder und Enkel weiter, damit es nicht in Vergessenheit gerät.
Plötzlich sah das goldene Leben im Westen anders aus. Außer für die Millionen, die ab 1990 in den Westen wechselten, die jungen, gut ausgebildeten und flexiblen Youngster, vor allen Dingen Frauen. Zurück blieben abgehängte Regionen mit Männerüberschuss, überaltert und ohne blühende Landschaften. Irgendwann sah die DDR im Rückblick doch gar nicht mehr so trist und grau aus, die negativen Dinge vergisst man erfahrungsgemäß als Erstes. Ostalgie kam auf, die DDR wurde schön geredet, da wurden Geschichten über den tollen Zusammenhalt unter den einfachen Leuten gestrickt. Die Zeit von 1989 bis 1990 wurde zum Zentrum von Legendenbildung. Das Ostdeutschtum wurde verklärt, der Westen war nun wieder wie zur Zeiten der SED der Böse, man würde nicht wertgeschätzt und überhaupt fühle man sich als Bürger zweiter Klasse. Dass die Leute im Ruhrgebiet solche Straßen wie in Dresden gerne hätten, dass es auch im Westen Armut und Prekariat gab, dass der reiche Westen ein Hirngespinst war, das war leider nicht bekannt. Da stehen wir nun mit Ost und West. Drüben laufen Menschen AfD und BSW hinterher, die die DDR hochhalten, hüben fragen sich Leute, was denn bloß mit dem Osten los ist. Warum die eigentlich die Zustände der DDR gerne zurück hätten, mit Höcke und Wagenknecht.
Kowalczuk zeichnet die Geschehnisse von 1989 bis heute in vielen Details nach. Als ehemaliger DDR-Bürger und Leicht-Oppositioneller hat er viele Dinge im Blick, viele Geschichten auf Lager. Zugleich zeigt er die DDR mit anderen Schwerpunkten und erleichtert das Verständnis für die Zeit vor 1989. Warum der Osten systematisch Hass auf den Westen erzeugte, warum sich die DDR als Friedensengel inszenierte, doch Rassismus, Faschismus und Bigotterie in den eigenen Reihen ignorierte oder dementierte. Eine Friedensnation, die die eigenen Bürgerinnen und Bürger einsperrte, permanent überwachte, Fehlverhalten in Gefängnissen und Jugendwerkhöfen abstrafte. Das Verstehen dieses Staates ist Voraussetzung dafür, viele Menschen in Ostdeutschland anders zu sehen als nur als demokratiefeindlich und als Wutbürger. Kowalczuks Buch ist keine Abrechnung mit seinen Landsleuten im Osten, es ist kein Lamenti wie das Buch von Dirk Oschmann. Es ist aber auch keine nüchterne wissenschaftliche Analyse wie viele andere Bücher über Ostdeutschland. Es ist schon ein bisschen persönliche Abrechnung, doch Kowalczuk begründet und zeigt, warum das schwierige Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen so entstanden ist. Ist der Hype um das Buch begründet? Ja und Nein. Nein, weil es einfach um nur die Realität geht, sozial und geschichtlich. Ja, weil der Autor quasi aus dem Inneren der ehemaligen DDR berichtet, ungeschönt und unverblümt. Ohne Ostalgie, aber auch ohne Ossie-Bashing.
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