Nachgedanken zu «Freiheitsschock»
Es ist nicht ungewöhnlich, dass ich nach den letzten Seiten eines Buches einen Moment brauche, um das Gelesene zu sortieren. Das ist im Grunde der Sinn der ganzen Leserei, Geschichte, Geschehnisse, die Welt überhaupt, aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Was die ehemalige DDR angeht, dazu den sozialen, politischen und kulturellen Zustand dieser gesamten Bundesrepublik, habe ich mindestens ein Dutzend Bücher bewältigt, von Dirk Oschmann über Steffen Mau, Anne Rabe bis Robert Rauh. Bei allem Bemühen der Autorinnen und Autoren konnte ich bisher nicht wirklich ergründen, warum in Ostdeutschland eine so kritische bis feindselige Einstellung gegenüber diesem Staat entstanden ist, warum die AfD, nun auch das BSW, mit populistischem, völkischem Geschwätz und blödsinnigen Parolen eine so breite Schicht anspricht. Mich interessierte, was denn so unterschiedlich läuft, zwischen Dresden und Köln, Hamburg und Rostock, Annaberg und Gummersbach. Ich verstand einfach nicht, warum Lichtenhagen passierte, was in diesen Leuten auf den PEGIDA-Märschen und bei den Freien Sachsen in den Köpfen vorging. Kowalczuk hat mit «Freiheitsschock» nicht die Antwort auf alles geliefert, aber er hat mir einen Aha-Moment vermittelt. In seinem Buch kommen keine grundlegend neuen Fakten auf den Tisch. Aber so, wie er die Geschichte neu zusammen setzt, ergibt sich ein Verständnis, das ich vorher nicht hatte.
Es gibt in Kowalczuks Buch einige Schlüsselsätze, die zünden. Die trotzdem schwer zusammen zu fassen sind. Wirklich klar wird die Essenz dieses Buches erst am Ende, im Résumé. Ostdeutschland, anders als Polen oder Rumänien, hat für Freiheit und Demokratie keinen wirklich großen Preis gezahlt. Im Grunde bekam Ostdeutschland diese Freiheit praktisch geschenkt, hatte nicht die harten Kämpfe durchzustehen wie andere Ostblockstaaten. Und wie so oft im Leben schätzt man Geschenke eher mäßig, im Gegensatz zu hart erkämpften Erfolgen. Doch nach den ersten Aktionen der Bürgerrechtsgruppen standen nicht mehr Freiheit und Demokratie im Vordergrund, sondern man wollte das, was man für „den Westen“ hielt. Wohlstand, Konsum, ein sorgenfreies Leben. Wie es die Werbung in ARD und ZDF vorspiegelten. „Helmut, nimm uns an die Hand, und führe uns ins Wunderland.„, „Kommt die D-Mark, bleiben wir. Kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr.“ Aus meiner eigenen Lebenserfahrung muss ich bestätigen, dass sich manchmal der größte Wunsch, das größte Sehnen, nach Eintritt in die Realität als Fluch erweist. Die D-Mark kam, schon im Juli 1990, im Oktober 1990 waren Sachsen und Brandenburg Teil der Bundesrepublik. Die Bedeutung dieses Bruches war den Menschen im Osten überhaupt nicht klar. Denen im Westen aber auch nicht. Gestern ein diktatorischer Fürsorgestaat, der seine Bürgerinnen und Bürger gängelte und überwachte, mit andauernder Rotlichtbestrahlung versorgte, gleichzeitig alle wirklichen und wesentlichen Entscheidungen abnahm. Die DDR-Diktatur kollektivierte alles, atomisierte zugleich jede Individualität. Doch wie der Kölner so sagt: „Man jewöhnt sich an allet.“ Wenn man das wollte, konnte man sich in der DDR einrichten. Was auch nicht wenige taten.
Innerhalb weniger Monate wurde nun alles anders. Mit 35 Sorten Joghurt im Supermarktregal und Nutella statt Nudossi konnte man mit etwas Übung noch zurecht kommen. Überhaupt sollte es sich bitter rächen, dass man in seiner Begeisterung für Westprodukte Spreewaldgurken und Rotkäppchen-Sekt aus den Regalen warf. Als klar wurde, dass daran in Radebeul und Bautzen Arbeitsplätze hingen. Der Schock kam aus einer anderen Ecke. Plötzlich musste man sich um Haushalts- und Haftpflichtversicherung kümmern. Man musste sein Leben in eigene Hände nehmen, der paternalistische DDR-Staat, der sich um jeden Fliegenschiss kümmerte, den Menschen alle Selbstverantwortung aus der Hand nahm, war Geschichte. Was tat der neue Staat dabei? Nüscht. Es lief so weiter wie in Großbritannien, Italien und Spanien auch, wie es im Westen Usus war. Seit 1949. Stattdessen traten nun auch noch windige Vertreter des westdeutschen Kapitalismus auf den Plan, die den Neubürgern übervorteilende Versicherungsverträge andrehten, und für viele tausend D-Mark rostige Ford Fiesta verscheuerten. Man kam nicht mehr zurecht im Osten, mit diesem westdeutschen Leben, das man sich erst so gewünscht hatte. Übrigens ist die Klage, dass in den Neunzigern Führungspositionen in Industrie und Verwaltung fast ausschließlich mit Wessies besetzt wurden, auch nur Teil der Wahrheit. Weil es im Osten praktisch keine Leute gab, die diese neue Welt des westlichen Lebens verstanden. Mit dem Nachwachsen einer neuen, anderen Generation, wird sich das ändern.
Nach einer Weile kam das große Wehklagen und Gejammer. Im Rückblick schien die DDR doch gar nicht so schlecht gewesen zu sein. Was war es für ein einfaches, überschaubares Leben damals. Die große Zeit der Ostalgie kam ans Leben. Zum Glück kamen auch Ostprodukte wieder ins Programm, ich würde diese knackigen Gurken und die Nougatcreme mit 36% Nüssen wirklich vermissen. Sorgen machen heute aber weniger Halloren-Kugeln oder Spee-Waschmittel, sondern Parteien, die mit Leuten aus NRW und Bayern die Sorgen der Ostdeutschen aufnehmen. Die wieder aufkommende Wünsche nach einem autoritären Staat und rückwärts gewandte Blicke für ihre Zwecke instrumentalisieren. Überhaupt geht Kowalczuk seht detailliert auf die politischen Fragen nach der Wiedervereinigung ein. Da das Buch aus dem Frühjahr 2024 stammt, werden Sarah Wagenknecht und die wahrscheinlichen Ergebnisse der Landtagswahlen in Sachsen und Thüringen ausgiebig zum Thema. Die Rolle der SED-PDS-Die Linke beleuchtet er in Tiefe. Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, solche Tendenzen wie die Rückkehr zu einem autoritären Staat nur im Osten zu verorten. Kowalczuk nennt einen Bodensatz von 20 bis 25% der wahlberechtigten Bevölkerung, die heute in nahezu allen europäischen Ländern anzutreffen sind und populistischen bis rechtsextremen Parteien ihre Stimme geben. Ein Blick nach Frankreich oder Italien lässt da eher noch Schlimmeres befürchten. Stichwort Russland und Putin, wird diese Beziehung zum großen Nachbarn oftmals historisch und gesellschaftlich anders interpretiert, als sie sich bei genauerem Blick zeigt. Auch hier kann der Autor auf seine eigene Geschichte in der DDR zurück greifen.
Ilko-Sascha Kowalczuk hat sich die Sache keineswegs leicht gemacht. Wie so oft im Leben, ist eine politische und soziale Lage nicht auf zwei oder drei Ursachen zurück zu führen. Nimmt man als anderes Beispiel mal den Brexit in Großbritannien, haben sich schon Scharen von Philosophen, Politikern und Historikern die Zähne an einer durchgreifenden Analyse ausgebissen. Die Entwicklung in Deutschland, insbesondere in Ostdeutschland, ist noch von weitaus höherer Komplexität. Es kommt nämlich hinzu, dass der Osten als so etwas wie ein Labor betrachtet werden kann, aus dem Tendenzen ebenso in den Westen schwappen. Beispiel AfD, die kommt auch in NRW oder Niedersachsen auf Wahlergebnisse, die deutlich zweistellig sind. Kowalczuk versucht erst gar nicht, die letztendliche, allumfassende Erklärung zu präsentieren. Dabei weist er an vielen Stellen auf seine eigenen Vorprägungen, Erfahrungen und Interpretationen hin, aus denen er seine Schlüsse ableitet. Er schafft aber etwas, was mir in den Büchern zuvor gefehlt hat: So etwas wie ein „Gefühl“ zu bekommen, einen Eindruck, wie der Hase wohl läuft. Dabei halte ich mir zugute, dass ich ein Wessie mit eher ausgiebiger Vertrautheit mit den Osten bin, seit Beginn der Zweitausender, nach vielen Wochen in Dresden, der Sächsischen Schweiz, im Erzgebirge und an der Ostsee. Kowalczuk liest schon seinen Landleuten die Leviten, jedoch immer mit einem erklecklichen Maß an Sympathie und Verständnis. Für die Leute westlich der Elbe ist das Buch ein ganz empfehlenswertes, denn es vermittelt wenigstens ein grundlegendes Verständnis, was da wie im Osten gelaufen ist. Vermutlich noch einige Zeit so weiter laufen wird. Danke dafür, Ilko.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!