Kurt von Stutterheim: England
Es kann schon vorkommen, dass ich Bücher lese, die schon einige Jahre älter sind. Ein Buch von 1937 ist mir aber noch nicht untergekommen. Ein Nachbar, der seinen riesigen Bücherbestand nach und nach auflöst, schenkte mir dieses Buch, da er mich als „Englandfahrer“ kennt. Bücher über England habe ich eigentlich schon reichlich, aber weiteres Material kann ja nie schaden. Wegen des Ausgabedatums, das mitten im Dritten Reich lag, war ich darauf gefasst, für heutige Verhältnisse merkwürdige Formulierungen und Positionen zu finden. Die gibt es auch tatsächlich, waren doch die Leute dieser Zeit noch stark von den deutschen Reichen davor beeinflusst. Das Buch bot sich zudem dafür an, es als Hörbuch zu bearbeiten, da sich scheinbar noch niemand daran gewagt hat. Dabei war ich dann doch etwas überrascht. Denn die Sprache der Nazis findet sich kaum darin, höchstens in andeutenden Nebensätzen, die die Veröffentlichung wohl erleichtern sollten. Dafür beschreibt Stutterheim die englische Kultur, Politik und das Sozialleben in selten zu findenden Details. Überraschend dazu, wie wenig sich in den vielen Jahren seit 1937 in Konventionen, Gebräuchen und Alltagsregeln in England verändert hat.
Nach eigener Aussage hat Stutterheim über 15 Jahre in England gelebt. Nach seiner Sicht muss er an diesem Land doch Gefallen gefunden haben, denn er spricht im Grunde immer mit Respekt, oft mit Anerkennung über England. Unterscheidet auch zwischen England, Wales und Schottland in Vergleichen. Er charakterisiert Engländerinnen und England, schreibt über Schulen, Universitäten, über die Politik, über das soziale Leben. Über die Konventionen und Regeln, nach denen England (bis heute) funktioniert. Er erklärt auch ausgiebig, was mir an England immer so gefallen hat: Die ausgesprochene Höflichkeit und Bescheidenheit der Engländer, ihre Hilfsbereitschaft und ihren Sinn für Fairplay. Natürlich gerade auch ihren Humor. Wie ich vermutet habe, lernen laut Stutterheim Kinder die Regeln des sozialen Zusammenlebens schon in der Kinderstube.
England und auch Wales sind anders strukturiert als Deutschland oder die Niederlande. Die wenigen Großstädte wie London oder Birmingham spielen eine kulturell eher untergeordnete Rolle. Die Klein- und Mittelstädte dienen überwiegend denen als Wohnort, die dort arbeiten. Das wirkliche England sind mehr die Dörfer und Siedlungen auf dem Land. Deshalb zieht es so viele Briten in den Ferien und an Wochenenden aufs Land. Gegenden wie die Cotswold Hills oder South Downs sind besitzmäßig heute fest in den Händen der Großstädter. Grasmere, Ambleside und Bowness im Lake District überlaufen von Leuten aus Liverpool oder Manchester. Doch gelten auf dem Land, in der „country side“, ganz andere Regeln und Gebräuche als in den Städten. Bis hin zur Kleidung. Gerade auf diese gesellschaftlichen Unterschiede geht Stutterheim sehr detailliert ein. Das letzte Kapitel „Quo vadis Britannia?“ ist mehr der politischen und wirtschaftlichen Frage des Status Quo Großbritanniens gewidmet. Daher, mit Sicht auf die zurückliegenden Jahrzehnte überholt. Geschichtlich trotzdem interessant, wie richtig oder falsch Stutterheim mit seinen Einschätzungen lag.
Es war schon interessant, England mal aus der Sicht von Stutterheim zu sehen, gerade aus politischer Perspektive und den damaligen Gegebenheiten. Geht man Stutterheims Biografie etwas mehr nach, war er kein Nationalsozialist. Das dient dann dazu, dieses Land wesentlich neutraler zu sehen als befürchtet. Auf jeden Fall bringt das Buch weit mehr Wissen über das englische Leben und Denken als alle Reisebücher.
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