Jutta Reichelt: Mein Leben war nicht wie es war
Wieder ein Buch, auf das ich über WDR 5 gestoßen bin, in der Reihe „Neugier genügt Redezeit“. Ein autobiografisches Buch, das den Weg der Autorin Jutta Reichelt nachzeichnet, mehr ein Buch über einen Prozess als über eine Handlung. Geschrieben hat sie das Buch über viele Jahre. Jutta Reichelt war lange der Meinung, ihr Leben sei doch ein ganz normales, sie sei bei ganz normalen Eltern aufgewachsen, in einer ganz normalen Familie. Wenn da nicht seit Kindheit die Angewohnheit wäre Selbstgespräche zu führen. Nicht mal ab und zu, sondern ständig, geradezu wie eine Manie. Als Erwachsene spürt sie, dass sie es nicht schafft, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, diese fühlt sich zerrissen, wie zersplittert an. Ihr Studium der Soziologie bricht sie ab, sie kann sich nicht auf Arbeiten und Referate konzentrieren. Beschließt Schriftstellerin zu werden, obwohl die mangelnde Konzentrationsfähigkeit sie kaum zu Texten über 18 Seiten kommen lässt. Zwar ist ihr schon bewusst, wie sie mit ihren Eltern aufgewachsen ist. Die Mutter emotionslos, desinteressiert und lieblos, der Vater tyrannisch und launisch, der zu viel trinkt. „Emotionale Vollwaise“ sei sie gewesen. Insgesamt sind sie vier Kinder, die Beziehung zu ihren Geschwistern ist irgendwie unklar. Erst als sie durch die Vertretung ihres Hausarztes an eine Art Psychotherapie gerät, kommen Aspekte ihres Lebens an den Tag, die ihr zuvor nicht bewusst waren. Erlebnisse, Geschichten, Anekdoten bekommen eine andere Bedeutung. Erst allmählich kommt an den Tag, warum Reichelt gerade so ist, wie sie ist. Es geht um Missbrauch, Traumata und wie brüchig unsere Erinnerungen in Wirklichkeit sind.
Mit dem Umzug von Bonn nach Bremen für das Studium und mit der Distanz zu ihren Eltern wird ihre Situation nicht besser, im Gegenteil. Sie bricht zusammen, sucht Hilfe bei einer anderen Psychotherapeutin, Frau H. So zwiespältig ihr Verhältnis zu Frau H. anfangs auch ist, dringt sie langsam und schmerzhaft zur Wahrheit durch. Dass ihr Vater sie sexuell missbraucht hat, ihre Mutter wegsah, auch ihre Schwester wurde Opfer ihres Vaters. Die bisher gepflegte Geschichte von ganz normalen Eltern und einer ganz normalen Familie bricht in sich zusammen. Langsam und mühsam werden die wirklichen Geschehnisse sichtbar und spürbar, nicht zuletzt durch Hinweise und Erzählungen ihrer Geschwister. Doch die Geschichte von Jutta Reichelt ist nicht einfach nur eine über Missbrauch und dysfunktionale Familien, geschönte Erzählungen, fehlinterpretierte Anekdoten und schlichtweg Lügen. Mit Frau H. geht Reichelt weiter, liest Bücher über Missbrauch und Trauma-Bewältigung, forscht nach und rekapituliert. Sie arbeitet sich durch den Nebel, den sie bisher für ihre Lebensgeschichte hielt. Sie begreift, dass nicht alles, was an Erinnerungen in ihr ist, die Wahrheit darstellt, dass selbst Bruchstücke von Erinnerungen aus der Kindheit eine ganz andere Bedeutung in sich tragen, die erst entschlüsselt werden muss. Ob die Geschichte ein Happyend hat, lässt sie offen. Aber sie gibt den Leserinnen und Lesern die Einsicht mit, dass das, was wir für Wahrheit und Realität halten, dies oft nicht ist.
Das zentrale Thema des Buches ist nicht der Missbrauch selbst, obwohl er letztlich das ist, worum sich Reichelts Lebensgeschichte dreht. Es geht um Traumata, welche Auswirkungen und Konsequenzen sie haben. Schwierig ist der Umgang mit den Traumata selbst. Wenn jemand Opfer eines Verkehrsunfalles oder eines Naturereignisses wird, KZ-Insasse oder Kriegsflüchtling war, ist das Trauma offensichtlich, kann in der Regel rekonstruiert werden, ist fast immer dokumentiert. Traumata, wie sie durch sexuellen Missbrauch oder schon nur durch Misshandlung entstehen, werden oft für die Opfer unsichtbar, verschwinden aus dem alltäglichen Gedächtnis, werden in der Familie verschwiegen, aus dem Sprechen verdrängt. Was aber nur zum Teil stimmt, denn im Inneren bleiben die Erlebnisse lebendig, prägen Leben und Alltag, dringen aber in Bedeutung und Auswirkung nicht in den bewussten Bereich. Reichelt geht in ihrem Essay bis ganz tief an ihre eigenen Wurzeln, bringt ihre Dinge ans Licht. Auch und gerade für sich selbst. Dabei streift sie viele Themenbereiche, Psychologie, Philosophie, Literatur. Auf diese Reise nimmt sie Leserinnen und Leser mit, lässt sie teilhaben an ihrem Schicksal. Eines hat sie mit diesem Buch eindeutig geschafft: Den Weg zu einer ausgezeichneten Erzählerin und Geschichten-Anstifterin.
Hinterlasse einen Kommentar
An der Diskussion beteiligen?Hinterlasse uns deinen Kommentar!