Frank Nonnenmacher: Die Nazis nannten sie »Asoziale« und »Berufsverbrecher«
Wenn es um die Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft geht, dann zuerst um Juden und Jüdinnen, Sinti und Roma, ebenso um Kommunisten und Sozialdemokraten nach der Machtergreifung der Nazis. Andere Gruppen werden allerdings fast nie Thema, wurden sogar bis 2020 von Entschädigungszahlungen und Anerkennung ausgeschlossen. Das waren die von den Nazis „Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ genannten Menschen. Diesen Menschen nicht nur ein Gedenken zu geben, sondern ihre Geschichten aus der Versenkung zu holen, ist Ziel des Buches von Frank Nonnenmacher, der als Herausgeber wirkt. Denn in diesem Buch erzählen Menschen von Großvätern und Urgroßmüttern, die meist ohne wirkliches Verschulden in den Konzentrationslagern umkamen. Manchmal reichte es schon, einfach ein anderes Leben zu führen als es den Nazis angenehm war, wie Untermieter bei einer Sexarbeiterin zu sein. Gerade in Kriegszeiten, als Hunger und Kälte herrschten, reichte das wiederholte Stehlen von Kohle und Kartoffeln zum Urteil als Berufsverbrecher oder Berufsverbrecherin. Oder man hatte sich gar nichts zuschulden kommen lassen, aber die SS brauchte Zwangsarbeiter in der Rüstungsproduktion. Oder Denunziation oder Neid der Nachbarn war das Problem. Oft schon aus Gefängnis oder Zuchthaus landeten diese Menschen in den KZs und verloren ihr Leben. Gerade in den Lagern, in denen das Programm Vernichtung durch Arbeit lautete, wie in Flossenbürg oder Mauthausen. Doch gesellschaftliche Scham ihrer Familien ließ diese Menschen nach 1945 unsichtbar werden. Das will Nonnenmacher ändern.
Die Vorgeschichte des von den Nazis intensivierten Prozederes gegen diese Menschen reicht ins 19. Jahrhundert zurück. Damals kam die Kriminologie im Nachklapp der Eugenik zu der Überzeugung, gesetzeswidriges oder aus Sicht der Mehrheit unmoralisches Verhalten sei genetisch bedingt. Mit den Nazis und ihrem Streben nach einem „reinen Volkskörper“ verstärkte sich der Druck auf Leute gerade aus den armen und erfolglosen Schichten. In den Armenvierteln war das Überleben oft nur durch kleine Diebstähle oder Betrügereien möglich. Obdachlosigkeit und Arbeitslosigkeit führten zu einem Leben als Landstreicher oder zur Randständigkeit in der Gesellschaft. Von solchen Menschen wollten die Nazis ihr Volk reinigen. Sie landeten ebenso wie jüdische Menschen in den Konzentrationslagern. Im Gegensatz zu den politischen Gefangenen mit einem roten Winkel auf der Jacke galten sie mit grünen und schwarzen Winkeln als selbst schuld an ihrer Situation. Angeblich rekrutierte die SS aus diesen Gruppen bevorzugt die Kapos, Hilfsaufseher, die oft noch brutaler und rücksichtsloser agierten als die Aufseher der SS. Und doch starben die angeblichen Asozialen und Berufsverbrecher genauso oft an Misshandlung und Mord wie andere Insassen. Waren diese Menschen nicht nur in den KZs der Bodensatz in der Hierarchie, so galten sie auch nach 1945 als Verursacher ihres Schicksals. Doch mit ihren Geschichten wollte nach dem Krieg niemand in der Verwandtschaft etwas zu tun haben, ihre Schicksale wurden verleugnet oder verschwiegen. Denn die gesellschaftliche Stigmatisierung reichte weiter bis in die Bundesrepublik. Wer wollte schon Asoziale und Berufsverbrecher in seiner Familiengeschichte haben. Nonnenmacher wirft auch genauere Blicke auf die zweifelhafte Geschichte von Begriffen wie asozial oder Berufsverbrecher. Wie sie bis heute nachwirken.
Frank Nonnenmacher hat sich zum Ziel gesetzt, diesen Opfern des Nationalsozialismus ihre Geschichte und ihre Würde zurück zu geben. Er gründete den Verband vevon, der sich dem Erinnern der verleugneten Opfer des Nationalsozialismus widmet. Damit erreichte er, dass am 13. Februar 2020 der Deutsche Bundestag anerkannte, dass niemand zu Recht im KZ war, auch Menschen mit dem grünen und dem schwarzen Winkel nicht. In diesem Buch erzählen Leute die Lebensgeschichten ihrer Vorfahren, wie sie in die Fänge der Nazis gerieten, was sie erlitten und erdulden mussten. Auch an Nichtankennung, sogar an Verachtung ihrer Nachfahren bis heute. Diese Geschichten sind eindrücklich, bewegend, beleuchten Entwicklungen in der Zeit des Dritten Reiches, die bis heute weitgehend totgeschwiegen oder ignoriert werden. Und es kann einem sogar nahe kommen. Wilhelm Schledorn, Großvater der 1960 in Hagen geborenen Lehrerin Anke Schulte, kam durch widrige Umstände und einen unglücklichen Lebensverlauf im Dezember 1941 im KZ Niederhagen in Wewelsburg bei Paderborn ums Leben. Angeblich durch „Körperschwäche“. Vor meinem Wohnzimmerfenster muss er an Himmlers SS-Kaderschule mitgeschuftet haben, die Reste des früheren KZs liegen wenige hundert Meter entfernt von meiner Wohnung. So wurden Geschichte, Leid und Verbrechen in meinem ganz persönlichen Lebensumfeld real. Aber auch sonst dokumentieren die Geschichten in diesem Buch eine Realität, die schon lange gern geleugnet und verdrängt wird. Als Ergänzung und Erweiterung der Geschichte des Dritten Reiches.
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