Paul Collier/John Kay: Das Ende der Gier
Bücher kaufe ich oft nach redaktionellen Besprechungen, wie im Perlentaucher oder nach Empfehlungen der Händler. Manchmal auch nach Klappentexten der Verlage. Für dieses Buch lautet der so:
Warum werden die demokratischen Gesellschaften der westlichen Welt in ihrem Kern immer weiter ausgehöhlt? Wie war es möglich, dass unter dem Firnis der Demokratie Extremismus und Populismus gedeihen? Die beiden weltweit renommierten britischen Ökonomen Paul Collier und John Kay zeigen in ihrem leidenschaftlichen Debattenbuch, wie der Ethos des extremen Individualismus unser Gemeinwesen zerrüttet – nicht nur durch das noch immer vorherrschende Ideal kapitalistischer Gewinnmaximierung und das Trugbild des Homo Oeconomicus, sondern vor allem durch die permanente Ausweitung individueller Rechte zulasten des Gemeinwohls. Sie führen vor, wohin die Gier des Einzelnen führen kann – und was politisch geschehen muss, um das Auseinanderbrechen der Gesellschaft zu verhindern.
Das Problem: Das Buch behandelt dieses Thema zwar am Rande, tatsächlich geht es jedoch um eine ganz andere Sache. Wie nämlich die Zentralisierung in Großbritannien mit dem Oberzentrum London das Auseinanderbrechen dieser Nation herbeiführte. Trotzdem habe ich tapfer bis zur letzten Seite durchgehalten. Zwar blieb der Erkenntnisgewinn bis zum Schluss aus, jedoch habe ich einiges über meine zweite Heimat gelernt.
Großbritannien gewann den zweiten Weltkrieg auch deshalb, weil Winston Churchill Gesellschaft und Industrie praktisch gleichschaltete. Dadurch konnte optimal auf die jeweiligen Bedingungen reagiert werden, was Material für die Armee oder Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung anging. Nach dem Ende des Krieges dachte man, dass eben eine solche zentrale Steuerung optimal sei, und behielt sie in Friedenszeiten bei. Dann aber kam alles anders. Der Beginn der Globalisierung, soziale und politische Angelegenheiten wurden immer komplexer. Dazu bewirkte der gelebte Marktfundamentalismus die Förderung der Meritokratie. Nicht mehr das Gemeinwohl stand ganz oben in der Prioritätenliste, sondern Hyperindividualismus, der Glaube an die Macht der Märkte, die schon alles regeln würden. Das war die Zeit der Entfesselung der privaten Unternehmen, die Finanzorientierung, der Entmachtung der Gewerkschaften. Margaret Thatcher und Tony Blair ließen grüßen. Alles, was noch in der Hand des Staates verblieb, waren Leistungen, die sich für private Unternehmen nicht rentierten. Aber es sollte weiter alles zentral bleiben, selbst der kleinste Gesundheitsdienst an der Spitze Schottlands untersteht Whitehall, kein einziges Pfund darf er ohne Genehmigung aus London ausgeben.
Die Folge war das Zerbröseln der lokalen Gemeinschaften. London gründete Universitäten dort, wo die ausgebildeten Fachleute nicht gebraucht wurden und abwanderten. Lokale Behörden und Organisationen, die ihr Geschäft vor Ort genau kennen, werden aus London übersteuert. Die zunehmende Konzentration in der Wirtschaft tut das ihre. Die Midland Bank wurde gegründet, um die Wirtschaft in genau diesem überschaubaren Teil Englands zu fördern. Heute ist die Bank ein internationales Unternehmen, die Zentrale ist in London, in der eher landwirtschaftlichen Region sind in den Filialen der Bank nicht mal mehr Kundenberater anzutreffen. Beide Faktoren, das starrsinnige Beharren auf zentraler Organisation des Staates plus die wirtschaftliche Konzentration in Großbanken und Großunternehmen bewirkten das Zerfallen der lokalen Gruppen und Verbindungen. Gemeinwohl spielt keine Rolle mehr. Das Rezept dagegen ist, wieder zu dezentralisieren, die Fachleute in ihren Regionen ihren Job machen zu lassen. Das Geschäft einer Bank ist in Penzance in Cornwall ein anderes als in Birmingham oder in Glasgow oder in Dover. Gemeinwohl wird nur dort erreicht, wo der Gewinn an Nutzen von denen gemacht wird, die dort zuhause sind. Die meisten Briten wohnen im Umkreis von 30 Kilometern von dort, wo sie mit 14 Jahren gewohnt haben. Der Arzt in der kleinen Klinik in Wales muss entscheiden, wie viele Betten er braucht. Nicht ein Verwalter in London. So weit, so gut.
Es geht also um spezifisch britische Probleme und deren Behebung. Deutschland kommt in diesen Betrachtungen nur vor, wenn gezeigt werden soll, wie man es besser machen kann. Oder Dänemark oder die Schweiz. Das Buch ist ein britisches Buch über britische Angelegenheiten von britischen Autoren, Schlüsse für die deutsche Gesellschaft und Politik sind praktisch nicht möglich. Der deutschen LeserIn sagt es eher wenig, höchsten mit einem gewissen Background über die britische Wirtschaft und über das alltägliche Leben dort drüben. Um eine ganz allgemeine Analyse über den Schaden am Gemeinwohl durch den zugegeben heute übertriebenen Individualismus geht es weniger. So stellte sich mir am Ende des Buches die Frage, warum dieses Buch in Deutsch in Deutschland eigentlich herausgegeben wird außer für schwerst anglophile LeserInnen. Aber das wird der Verlag wohl besser wissen.
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