Ole Nymoen/Wolfgang M. Schmitt: Influencer

Den einzigen »Influencer«, den ich gelegentlich in YouTube schaue, ist Stephan Wiesner. Der erzählt jedoch weder etwas über Schminken, noch über Bodybuilding oder Reisen, sondern über Fotografie. Er ist also Fachmann für Fotografie, nicht im eigentlichen Sinne Influencer. Auch wenn er Leute beim Kauf von Kameras oder beim Fotografieren beeinflussen mag. Nymoen und Schmitt meinen eine ganz andere Gruppe von Leuten, die ein relativ junges Phänomen sind. Zwar hat auch Wiesner über 180.000 Follower, gegen die Millionen der Kardashians oder Hiltons ist das eher ärmlich. Stattdessen wollen die Autoren analysieren, warum sich so viele Leute bedeutungslose bis unsinnige Videos und Stories in Instagram oder TikTok ansehen, die mit der Realität praktisch nichts mehr zu tun haben. Nicht speziell um die Inhalte geht es, sondern woher diese Protagonisten der digitalen Welt historisch stammen, wie sie arbeiten und welche Konsequenzen ihre Geschichten gesellschaftlich bis politisch haben. Warum sie so viele Leute binden, die früher bei Werbeeinblendungen im Fernsehen oder Radio laut aufgestöhnt haben. Nun sich aber bereitwillig und freiwillig Werbung für Produkte ansehen, die nichts anderes als hohle Versprechen sind. Denn um nichts Anderes geht es am Ende, um Werbung, für die die Großen in diesem Geschäft bis zu fünfstellige Zuwendungen erhalten. Doch die Wirkung dieses Contents, der in Wirklichkeit keiner ist, so Nymoen und Schmitt, zementiert längst überholt geglaubte Stereotypen, entpolitisiert und ist eine weitere unangenehme Version des kapitalistischen Neoliberalismus. Mit Demokratie, Offenheit und Fortschritt haben diese Filmchen nichts zu tun. Im Gegenteil, sie untergraben die Fortschritte, die wir schon vor dem Internet gemacht hatten. Eine streckenweise böse Abrechnung mit der digitalen Gegenwart, die die Autoren auch nicht schön schminken.

Werbung ist eine uralte Sache. Selbst junge Leute stoßen gelegentlich auf uralte Plakate vom Anfang des 20. Jahrhunderts, auf denen für Waschmittel, Würzsaucen oder Zigaretten geworben wurde. Ihren großen Aufschwung nahm Werbung mit den neuen Medien Mitte des 20. Jahrhunderts, Fernsehen und Radio. Inzwischen haben diese beiden Medien viele Nutzer verloren, gerade in der jungen Generation. Mit Herrn Kaiser von der Versicherung und Caroline und ihrem Waschmittel erreicht man heute selbst Leute der mittleren Generation nicht mehr. Seit einiger Zeit dient nun das Internet als Werbeträger. Doch die Anzeigen in der rechten Spalte erzeugten bald eine erlernte Blindheit für deren Inhalte, Ad-Blocker verhindern weitere Werbung. Stattdessen kam eine neue Methode der Werbung auf, die Influencer, die Produkte präsentieren und über den grünen Klee loben. Die sogar in Zusammenarbeit mit den Großen der jeweiligen Industrie eigene Produktserien auflegen. Abgesehen von einigen Sportlern und Filmstars stammen diese Influencer aus den gleichen Verhältnissen wie die User, die ihnen folgen. Sie machen auch keinen Hehl aus ihren wirtschaftlichen Erfolgen, präsentieren sich mit teurer Kleidung und teuren Autos, vor Gebäuden in Dubai und Villen in Florida. Immer mit professionellen Fotos, an ungewöhnlichen Orten, inszeniert und in Szene gesetzt.

Dabei wird immer wieder der Eindruck vermittelt, jeder könne es schaffen, jeder könne diesen Erfolg haben. Wenn er, oder sie, nur den Ideologien folgt, die von den Influencern vermittelt werden. Gepaart mit einer scheinbaren Teilhabe der Benutzer, indem sie Likes und Kommentare hinterlassen, die von einem Team hinter dem Hauptdarsteller berücksichtigt werden. Selbst vor dem Einsatz von Kindern wird dabei nicht zurück gescheut. Alles, was zählt, ist „der Moment“, „die Inspiration“, „das Erlebnis“. Eine Scheinwelt, eine Scheindemokratie, eine Scheinbeteiligung. So offensichtlich der Fake ist, die Benutzer machen gerne und angeregt mit. Die Werbung, die lange im Fernsehen genervt hat, wird nun aktiv konsumiert. Als Unterhaltung oder aus Bewunderung. Doch die Wirkung, die diese digitalen Potemkinschen Dörfer haben, ist für die Gesellschaft alles andere als harmlos. Da werden Frauen wieder darauf reduziert, den Männern zu gefallen, weil sie perfekt geschminkt sind. Sogar ganz neue Aspekte werden erzeugt. Galten Männer im optischen Sinne lange nicht als wichtig, waren sie kein Objekt des Anschauens, der Skopophilie, werden sie nun ebenfalls zu isolierten Objekten, an denen nur das Sichtbare interessiert. Narzissmus, Egozentrik und Schein feiern fröhliche Urständ. Influencer, so die Autoren, schenken ihren Followern eine Welt des Banalen, die die Follower jedoch nie erreichen werden. Die angebliche Beziehung zwischen Influencer und Follower ist eine Lüge, die nur dem Profit dient. Oder dem Wachstum, was in dieser Welt fast noch wichtiger ist.

Man spürt in diesem Buch eine Art von Wut und Verachtung der beiden Autoren für diese neue Art der kapitalistischen Ausbeutung. Im Gegensatz zur Industrialisierung sogar in dem Sinne, dass die Ausgebeuteten und Betrogenen begeistert bei der Sache sind. Auf der sachlichen Seite leiten Nymoen und Schmitt aus historischen und wirtschaftlichen Rückblicken eine verständliche Linie ab, warum diese Art von Werbung im Grunde nicht neu ist, sondern nur als Werbung mit anderen Mitteln. Product Placement ist eine uralte Geschichte, für einen James Bond war sie unverzichtbar. Schon lange zurück kauten TV-Stars Gummibärchen einer Bonner Süßwarenfabrik. Der Unterscheid entsteht daraus, dass es in diesen Fällen offensichtlich war, dass es keine Realität war. Influencer jedoch tun so, als sei ihr Treiben die wirkliche Welt. Mit Folgen für die Menschen, die vom Gesellschaftlichen bis ins Politische reichen. Diese Detailbetrachtung ist das Lesenswerte in diesem Buch. Auch wenn gelegentlich eine emotionale Wertung dazwischen kommt.

Mehr über Ole Nymoen auf suhrkamp.de.

Wolfgang M. Schmitt studierte an der Universität Trier Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte. Im Anschluss an sein Masterstudium war er dort als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literatur tätig und begann mit der Arbeit an einer Dissertationsschrift über das Politische in Ernst Jüngers Spätwerk. Nebenher veröffentlichte er einige Beiträge für das Rezensionsforum literaturkritik.de. Im Jahr 2015 begann Schmitt als unabhängiger Berater am Institut für Zeitgenossenschaft zu arbeiten, zudem moderierte er dort gemeinsam mit Samira El Ouassil.  Als freier Journalist schreibt er Film- und Literaturkritiken u. a. für die Rhein-Zeitung und Neues Deutschland, außerdem veröffentlicht er Gastbeiträge bei der Neuen Zürcher Zeitung, der Wochenzeitung der Freitag und der deutschen Ausgabe des Jacobin-Magazins. 2021 trat er auf der phil.cologne auf. Seit 2011 betreibt Schmitt den YouTube-Kanal Die Filmanalyse mit dem Motto „Kino anders gedacht!“ […] Im Podcast Wohlstand für Alle beschäftigt er sich gemeinsam mit Ole Nymoen mit der Dekonstruktion von „Wirtschaftsmythen“. Der Titel bezieht sich auf das gleichnamige Buch von Ludwig Erhard. Als Motivation für den Podcast nennt Schmitt im Interview mit der taz: „Wirtschaftliche Themen sind im linken Spektrum vollkommen unterrepräsentiert. Es wird über Identitätspolitik gestritten, statt den Fokus auf die Wirtschaft zu legen.“

Dieser Text basiert auf dem Artikel Wolfgang M. Schmitt aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

0 Kommentare

Hinterlasse einen Kommentar

An der Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns deinen Kommentar!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert