Richard J. Evans: Das Dritte Reich und seine Verschwörungstheorien

Man könnte annehmen, Verschwörungstheorien hätten erst mit der Verbreitung des Internets wirkliche Bedeutung erlangt. Tatsächlich gehen diese bis ins Mittelalter zurück, siehe Hexenverfolgung und die Inquisition der Kirche. Nun ist Evans nicht der Erste, der sich mit diesem Thema beschäftigt. Eine Suche zu „Verschwörungstheorie“ in Büchern bei Amazon liefert über 2.000 Einträge. Das Thema sollte genug behandelt sein. Doch Evans geht die Geschichte etwas anders an. Mit fünf Beispielen, die im Zusammenhang mit dem Dritten Reich stehen. Es geht ihm jedoch nicht darum, Verschwörungstheorien grundsätzlich zu betrachten und zu erklären, sondern ihre Funktion im historischen Kontext auszuforschen. Denn Evans ist in erster Linie Historiker. Und es geht in diesem Kontext natürlich um Antisemitismus, aber nur in drei der fünf Beispiele, in zwei davon eher konstruiert als begründet. Es versteht sich, dass die Funktionen, Merkmale und Stereotypen von Verschwörungstheorien mit einbezogen werden. Man könnte das Buch als eine Vertiefung zum Thema betrachten, als Aufzeigen von konkreten Konstruktionen, wem sie dienen und warum sie so wirkmächtig sind. Jedoch am Ende noch einmal mit der Warnung, dass Verschwörungstheorien nichts sind, das man nur belächeln und sich darüber lustig machen kann, sondern dass sie Bedrohungen der Wahrheit sind. In einigen Fällen sogar zu bedrohlichen Maßnahmen ihrer Anhänger führten.

Die fünf Beispiele sind die angeblichen Protokolle der Weisen von Zion, die in einem Geheimtreffen in Basel 1897 niedergelegt worden seien. Die angeblich zeigen, mit welchen Mitteln und Methoden die Juden die Weltherrschaft an sich reißen wollten. Als wenn die Verschwörer auch noch schriftlich festgehalten hätten, wie sie vorgehen. Dabei sind diese Protokolle eher der Prototyp dessen, was die Nazis dann tatsächlich vollführten. Die Dolchstoßlegende sagt, die Niederlage des deutschen Heeres sei auf das Zusammenbrechen der Heimatfront im Ersten Weltkrieg 1918 zurück zu führen, auf die November-Revolution im November durch Sozialisten und Kommunisten. Ignorierend, dass die gescheiterte vorherige Frühjahrs-Offensive schon unzählige Soldaten desertieren ließen, die Fortführung des Krieges mit dem Verkennen der Wirklichkeit der Heeresführung geschah. Wer zündete 1933 den Reichstag an? Nach heutigen Erkenntnissen war es in der Tat der Niederländer Marinus van der Lubbe, ein Einzeltäter. Doch da bei solchen Ereignissen Verschwörungstheoretiker immer einen lange vorbereiteten Plan sehen wollen, und die Frage, wem das Ereignis nutzt, die tatsächlichen Täter entpuppt, hieß es schnell, die Nazis hätten den Reichstag angezündet. Es gibt nichts, was diese Annahme belegt. Dass der Brand den Nazis nutzte, heißt nicht, dass sie ihn auch gelegt hätten. Aber es half ihnen ungemein. Warum flog Rudolf Heß nach Schottland? Bis heute gibt es Interpretationen, Hitler hätte ihn geschickt, um einen Separatfrieden mit den Briten auszuhandeln. Alles spricht dagegen, allein grundsätzliche Betrachtungen zu den beteiligten Personen. Das letzte Beispiel ist das plakativste. Adolf Hitler hätte sich gar nicht am 30. April umgebracht, er sei mit Martin Bormann und Eva Braun entkommen und mit einem U-Boot nach Argentinien geflüchtet. Wo er sicher und bequem bis ins hohe Alter gelebt hätte. Am 22. März 1945 seien Hitler und Braun durch Doppelgänger ersetzt worden. Aber je nach Verschwörungstheorie war er einmal in Argentinien, dann in Brasilien, oder in Indonesien oder lebte in der Antarktis in einer Station, von wo die Nazi-UFOs gestartet waren. Nebenbei ist Bormanns Leiche 1972 bei Bauarbeiten in Berlin zufällig in einem U-Bahnschacht entdeckt worden. Die eindeutig identifizierten Kieferfragmente der verbrannten Leiche Hitlers hinter der Reichskanzlei interessieren Verschwörungstheoretiker da weniger. Eine Geschichte abstruser als die andere, sie widersprechen sich sogar gegenseitig. Obwohl die Urheber alle sicher sind, die einzig richtigen Antworten zu haben.

Damit bringt Evans erst einmal keine wesentlich neuen Erkenntnisse zum Wesen von Verschwörungstheorien. Er geht aber speziell auf die Konstruktion der Theorien und ihre geschichtlichen Hintergründe ein. Er kommt nicht um die Begleitumstände herum, zeigt schon, dass hinter den Geschichten und ihren Erfindern gezielte Motivationen und Absichten stecken. An den konkreten Beispielen lassen sich geschichtliche Zusammenhänge darstellen, dazu ruft er die politischen Gegebenheiten und Verläufe noch einmal in den Vordergrund. Diese geschichtliche Orientierung, nicht eine psychologische oder sozialwissenschaftliche, unterscheiden das Buch vom großen sonstigen Angebot. Sieht man vom gelegentlich merkwürdigen Satzbau der Übersetzung ab, fügt Evans eine andere Sichtweise auf Verschwörungstheorien hinzu, die durchaus lesenswert sind und in einigen Abschnitten sogar Spannung aufbauen. Keine ganz triviale Abhandlung, aber neue Aspekte zu uralten Stories, die selbst heute nach über 100 Jahren noch  kolportiert werden.

Sir Richard John Evans (* 29. September 1947 in Woodford Green, Essex, heute zu London) ist ein britischer Historiker, der zahlreiche Arbeiten zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts publiziert hat. Nach dem Studium der Geschichte wurde Richard J. Evans 1972 am St Antony’s College der Universität Oxford promoviert. Danach war er von 1972 bis 1976 Lecturer an der University of Stirling in Schottland. Von 1976 bis 1989 lehrte er Europäische Geschichte an der University of East Anglia, zunächst als Lecturer, seit 1983 als Professor. 1989 wechselte Richard Evans an die University of London, wo er bis 1998 als Professor Geschichte am Birkbeck College lehrte. Seit 1998 ist er Professor für Moderne Geschichte an der Universität Cambridge. […] Seine Werke zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts wurden unter anderem mit dem „Wolfson Literary Award for History“ und der Medaille für Kunst und Wissenschaft der Freien und Hansestadt Hamburg ausgezeichnet. Mit «Tod in Hamburg» («Death in Hamburg», 1987; deutsch 1990) verfasste er eine detaillierte Analyse der Hamburger Choleraepidemie von 1892. Sein «Rituale der Vergeltung» («Rituals of Retribution», 1996; deutsch 2001) ist eine monumentale Monographie über die Entwicklung der Todesstrafe in Deutschland seit der Carolina 1532 unter rechtlichen, kulturgeschichtlichen und soziologischen Aspekten. Es wird als Standardwerk zur Thematik angesehen. Größere Bekanntheit und Medienpräsenz erlangte Evans im Prozess um David Irving (2000), in dem er als Gutachter auftrat und Irving nachwies, dass dieser wissentlich unwahre Behauptungen über historische Tatsachen wie die Opferzahlen bei der Bombardierung Dresdens oder den Holocaust aufstellte. Seine Betrachtungen zur Streitfrage veröffentlichte er im Buch «Telling Lies about Hitler» (deutsch «Der Geschichtsfälscher», 2001). Zwischen 2003 und 2008 veröffentlichte Evans eine dreibändige Geschichte des Dritten Reiches, die in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. 2020 folgte eine Arbeit über Verschwörungstheorien mit Bezug auf die NS-Zeit. Darin analysierte Evans die Protokolle der Weisen von Zion, die Dolchstoßlegende, den Reichstagsbrand, Rudolf Heß’ Flug nach Großbritannien 1941 und die Gerüchte, Hitler hätte das Kriegsende überlebt. Das Buch wurde positiv rezensiert.

Dieser Text basiert auf dem Artikel Richard J. Evans aus der freien  Enzyklopädie Wikipedia  und steht unter der Lizenz Creative Commons CC-BY-SA 3.0 Unported (Kurzfassung). In der Wikipedia ist eine Liste der Autoren verfügbar.

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