Sophie Passmann: Komplett Gänsehaut
Als ich 27 war, wohnte ich noch in der gleichen Stadt, in der ich geboren wurde. In der ich die Volksschule und die Fachoberschule besuchte. Und doch waren die drei Welten ganz verschiedene. Sogar das heutige Berlin hat mit meinem Berlin aus den Achtzigern nicht mehr viel zu tun. Selbst Kreuzberg nicht. Aber so ist es einmal eine andere Welt, wenn man 38 Jahre älter ist als Sophie Passmann. Ich weiß nicht einmal genau, wie ich an dieses Buch gekommen bin, könnte eine Leseempfehlung in der Psychologie Heute gewesen sein. Solche Bücher lese ich, wenn ich mehr über sie weiß, meistens nicht. Meistens. In diesem Fall war ich froh, das Buch in der Buchhandlung meines Vertrauens geordert zu haben, die nicht mit A anfängt, sondern mit M.
Das Buch ist kein Sachbuch, es ist kein Roman, nicht mal ein Essay. Es ist ein Buch, in dem die Autorin in ihrer neuen schönen Wohnung sitzt und sich fragt, was sie und ihre Generation denn wohl besser gemacht haben als Eltern. Von Großeltern ganz abgesehen. Ob sie wirklich die ihr angedachten Chancen genutzt, die Digitalisierung gewinnbringend eingesetzt haben und überhaupt klüger waren, als sie es ihren Eltern zustanden. So gesehen ist es eine niedergeschriebene Reflektion, öffentlich zugänglich gemacht. Das klingt nach nicht viel. Aber manchmal ist weniger mehr.
Sophie Passmann scheint an einer Stelle aufgegangen zu sein, dass sie – ähnlich dem alten weißen Mann – privilegiert ist. So erzählt sie darüber, was sie so nachdenkt, mit dem Blick auf das Bücherregal in ihrer neu bezogenen „ekelhaft hellen Altbauwohnung“. Langsam wird ihr klar, dass sie so ein verdammt unabhängiges, bürgerliches, eben privilegiertes Leben führt. Dass die Sprüche anderer Menschen, vorwiegend Männer, die sie mal zuerst interessant fand, nun nerven. Inventur über die zurück gebliebenen Spuren dieser 27 Jahre, mit dem Einzug ins gefühlte Erwachsensein. Welche Bücher stehen da eigentlich im Bücherregal und warum? Was kocht man in der eigenen Küche, und was sagt das über einen aus? Wie begegnet man sich selbst in Räumen, die man sich mit niemandem teilen muss? Wie privilegiert, wie intellektuell, wie deutsch ist man denn, wenn man genau das jetzt alles kann, mit 27 Jahren?
Das klingt erst einmal ziemlich langweilig, jemandem beim Nachdenken zuzuhören. Doch das Besondere dieses Buches liegt einmal im Stil, diesen endlosen Sätzen, die sich beim Nachdenken eben automatisch ergeben. Weil man sortiert, hin und her wendet und wieder in neue Ecken vorstößt. Passmann schwelgt geradezu in Sätzen, die man nach den Büchern über journalistischen Stil oder als Autor nicht schreiben darf. Aber nur so wird das Dilemma deutlich, dieser Generation der Praktika und Erasmus-Programme, der Auslandssemester und angeblichen Wanderer in den digitalen Welten. So wird sichtbar, dass die Wahrnehmungen ihrer Generation und die ihrer Eltern nicht wirklich trennbar sind. Schon gar nicht die vergangenen Dinge.
An einer Stelle muss ich dann doch einschreiten. Zu unterstellen, dass Eltern immer in schmucken Reihenhäusern mit Garten leben, einen wohl sortierten Kühlschrank haben und immer die gleichen Sätze abspulen. Diese Elterngeneration, die Baby Boomer, ist mindestens so vielfältig und divers wie die Generationen Y und Z, wenn nicht wegen der weiter zurückliegenden Zeit sogar noch einen Tick bunter. Da ist Sophie Passmann ein wenig einseitig. An dieser Stelle ist die Sicht mit 38 Lenzen mehr auf dem Buckel weiter und detaillierter. Trotzdem habe ich das Buch genossen, weil es mir zeigt, dass ich den Youngsters wohl nicht mehr wegen einer unterstellten offeneren Zukunft hinterher neiden muss. Nein, Sophie, wir sind nicht alle weiße alte Männer. Es sind viele graue alte Männer darunter. Die immer noch Genesis, Pink Floyd und Gentle Giant hören, ihre Zigaretten aus Überzeugung selber drehen und manchmal schräge oder alberne Gedanken haben. Wir sind nicht so weit auseinander.
So sitze ich in meiner neuen, ekelhaft hellen kernsanierten Altbauwohnung, ein reichlich gefülltes Bücherregal neben mir und sinniere über Deine Gedanken nach.
Sophie Passmann in WDR 3 Resonanzen
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