Ernst Peter Fischer: Wider den Unverstand!
Was mich bei Querdenkern, Impfgegnern und anderen Schwurblern am meisten auf die Palme bringt, ist das völlige naturwissenschaftliche und technische Unwissen. Da passen elektronische Schaltkreise mit mehreren Millimetern Kantenlänge durch Injektionsnadeln, die außen weniger als einen halben Millimeter dick sind. Ganz zu schweigen davon, wo die Schaltungen im Blut ihre Stromversorgung herbekommen. mRNA-Impfstoffe verändern angeblich die Erbanlagen. Wenn man eine flache Scheibe im Weltall platzieren würde, wäre davon nach absehbarer Zeit eh nur noch eine Kugel da, weil physikalische Kräfte wie die Gravitation nun mal so wirken. Erst recht stutzig machte mich die Feststellung, dass mir Querdenker in Großbritannien oder den Niederlanden nicht aufgefallen sind. Also ein deutsches Phänomen? In gewisser Weise ja, sagt Ernst Peter Fischer in seinem aktuellen Buch. Die naturwissenschaftliche Bildung eines großen Teils der deutschsprachigen Gesellschaft sei praktisch nicht vorhanden, damit kann auch technisches Wissen nicht funktionieren. Millionen Leute wischen auf ihren Smartphones herum, ohne nur eine Spur von Ahnung darüber, was in der Schachtel passiert, und wie und warum. Je komplexer Technik wird, umso mehr erscheint sie als Mysterium. Auf dieser Grundlage grassieren dann Verschwörungstheorien, Mythen und Unsinn wie Schimmelpilze. Aber woher stammt diese Wissenschaftsfeindlichkeit, geradezu das Verlangen nach Unwissen und Inkompetenz, besonders in den Naturwissenschaften? Da muss man dann mit Fischer mal einige Jahrzehnte in die Vergangenheit schauen.
Geht man weit genug in der Zeit zurück, gab es keine Trennung von Geistes- und Naturwissenschaften. Erst im Lauf des 18. Jahrhunderts trennten sich die Wissenschaften in Bereiche wie Philosophie, Soziologie, Physik und Biologie. Damit begann ein erstes Auseinanderlaufen des Wissens. Doch noch waren die gemeinsamen Wurzeln bei Aristoteles, Galileo Galilei und Johannes Kepler nicht zu leugnen. Erst im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog sich das endgültig Abscheiden, nicht zuletzt wegen der großen Fortschritte in den Naturwissenschaften. Aus einer gemeinsamen Entwicklung wurde eine Separation. Geisteswissenschaftler, allen voran die Philosophen, verweigerten sich der Entwicklung zu einem erweiterten Wissen. Die Naturwissenschaft wurde von ihnen nur noch als eine Art Handwerk betrachtet. Der entscheidende Schritt zum Verschwinden der Naturwissenschaft aus Lehrplänen und aus der Bildung liegt noch nicht ganz so lange zurück. Spätestens mit den Sechzigern des letzten Jahrhunderts wurden die Philosophie und ihre Verwandten wie Psychologie und Soziologie die angeblich wesentlichen Wissensgebiete. Naturwissenschaften konnten wenig später von Schülern abgewählt werden. Was ihnen recht war, denn Physik und Chemie sind doch deutlich anstrengender und mühsamer als englische Vokabeln und Interpretationen von klassischen Schriften. Ebenso in diese Zeit fällt ein Umdenken an fast allen Schulen. Aus dem hehren Ziel der umfassenden Bildung wurde das der optimalen Vorbereitung auf den Beruf. Die Kids sollten machen, nicht denken.
Damit geht Fischer auf eine wesentliche und aktuelle Frage über: ob das Vermitteln naturwissenschaftlichen Wissens eine Bringschuld der Wissenschaft oder eine Holschuld der Bürger und Bürgerinnen ist. Die Frage führt in die falsche Richtung, wenn es heute von den Menschen nicht mehr gewollt ist. Die von der Aufklärung geforderte Mündigkeit ist zu schwierig, zu aufwändig geworden. Bei einer Komplexität der jetzigen Technik und der Naturwissenschaften. Themen, die selbst und gerade von Fachleuten auf ihren Gebieten nur schwerlich „dem blöden Volke“ begreifbar gemacht werden können. So wischt man auf seinem Handy hin und her, aber frage keiner, warum dieses Teil funktioniert. Stattdessen ziehen sich Leute in ihrem Unwissen auf Diskussionen über den 5G-Standard oder mRNA-Impfstoffe zurück. Ohne eine Spur von Ahnung, worüber sie reden.
Fischers Fazit ist deutlich. Wenn wir weiterhin die immer wichtigeren Naturwissenschaften so kläglich behandeln, sie aus den Schulen drängen und aus unseren Fernsehprogrammen, wird die Lage eher schlimmer als besser. Tatsächlich ist diese Entwicklung ein sehr deutsches Problem. Das Bildungssystem in Ländern wie Großbritannien oder den nordischen Ländern erspart seinen jungen Menschen die Naturwissenschaften eben nicht, da kann man Chemie nicht in der Sek II abwählen. Wir können es uns nicht mehr leisten, möglichst vielen Leuten die Mühen wissenschaftlichen Denkens zu ersparen. Es geht nicht darum, aus jedem einen Physiker oder Biologen zu machen. Aber mit der bisherigen Vorgehensweise entziehen wie den größten Teil der Menschen ein mündiges und vernünftiges Denken und Handeln. Die Klimakrise ist dafür ein gutes Beispiel. Ein lehrreiches Buch, klasse geschrieben und mit großem Engagement.
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