Augustusburg liegt nördlich von Chemnitz. Das überaus nette und gemütliche Örtchen mit dem schönen Schloss habe ich im Mai 2023 kennengelernt, auf meinen üblichen Besuchen im südlichsten Bundesland des deutschen Ostens. Später bekam ich von einer Freundin dieses Buch mit auf den Heimweg. Vom (jetzt) ehemaligen Bürgermeister des Städtchens. Dirk Neubauer war ursprünglich Journalist, hat jedoch 2013 den Sprung in die kommunale Politik gewagt. Er ließ sich zum Bürgermeister wählen, löste so die bisherige Bürgermeisterin der CDU ab. Neubauer selbst trat erst 2017 in die SPD ein, in die Partei, in der die meisten Übereinstimmungen zu seinen Überzeugungen lagen. Als Journalist waren die Voraussetzungen gar nicht mal schlecht. Neubauer hatte sich viel vorgenommen. Er wollte die Politik in seiner Stadt öffnen, wollte Austausch, wollte Bürgerinnen und Bürger beteiligen, wollte Kommunalpolitik transparent machen. Er richtete einen Blog ein, veranstaltete regelmäßige Sprechstunden. So wurde er ein erfolgreicher Bürgermeister, mit Pragmatismus und viel Engagement. In seinem Buch «Das Problem sind wir» berichtet er über diese Zeit, über Erfolge und Hürden, Fehlschläge und Erkenntnisse. Doch wann immer die Rede auf Sachsen oder Thüringen kommt, wird es speziell. Dann geht es um Wahlerfolge der AfD, um Landflucht und die Probleme der ländlichen Regionen, um zerlegte Lebenswege und um den beschwerlichen Weg des Ostens von 1990 in die Gegenwart. Ein Buch aus der Praxis für die Praxis. Mit viel mehr Einsichten, als der Untertitel ahnen lässt.
Beiträge
Ewald Frie wurde 1962 im münsterländischen Nottuln geboren. Seine Eltern betrieben einen der Bauernhöfe außerhalb des Dorfes, auf der Horst. Bedingt durch Corona-Krise und deshalb vertagten anderen Projekten begann er, die Geschichte der Familie anhand von Interviews mit seinen Geschwistern und Verwandten nachzuzeichnen. Ergänzt durch Recherchen in Kirchenbüchern, Landesarchiven und Gemeindeverzeichnissen. So entsteht eine umfassende Geschichte des Hofes seit dem Dreißigjährigen Krieg, detaillierter bis in das 20. Jahrhundert. Der eigentliche Sinn des Buches ist aber nicht eine historische Rückschau, sondern zu zeigen, wie sich bäuerliches Leben vom 19. Jahrhundert bis heute gewandelt hat. Mit den großen Veränderungen in den Sechzigern und Siebzigern des letzten Jahrhunderts. Wie drastisch und rapide sich Landwirtschaft in dieser Zeit an den Markt anpassen musste, und wie seine Familie und er selbst diese Anpassungen bewältigten. Überraschend dabei die mal historische Sicht, dann wieder die Sicht auf die Menschen in dieser Zeit und was aus ihnen unter diesen Bedingungen wurde. Das Buch ist historische Arbeit als auch persönliche Reflektion, die eine beeindruckende und faszinierende Geschichte ergeben. Nicht ohne Grund kassierte Frie mit diesem Buch 2023 den Deutschen Sachbuchpreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels.
"Die plurale demokratische Zivilgesellschaft ist ein zentrales Element des freiheitlichen Rechtsstaates." So beginnt der Klappentext, doch was ist diese Zivilgesellschaft eigentlich? Einfache Antwort: alle Organisationen und Verbände, in denen sich Bürgerinnen und Bürger zum Nutzen der Gesellschaft oder der Umwelt engagieren. Oder Gleichgesinnte treffen oder Passionen pflegen. Die größten acht sind allen bekannt, nämlich Gewerkschaften und Kirchen, Wohlfahrts- und Naturschutzverbände, Fußball- und Schützenvereine, die freiwillige Feuerwehr und kulturelle Institutionen. Wolfgang Schroeder, Samuel Greef, Jennifer Ten Elsen, Lukas Heller und Saara Inkinen haben sich diese acht zentralen Organisationen in der Hinsicht genauer angesehen, wie weit sie durch rechte Tendenzen und Aktionen beeinflusst oder sogar unterwandert werden sollen. Dazu verwendeten sie einen umfangreichen Fragenkatalog sowie Interviews mit Beteiligten, um herauszufinden, welchen Einfluss Rechtsextreme und Rechtspopulisten dort entfalten. Doch nicht nur als Beobachtung, sondern mit der Frage, wie man menschen- und demokratiefeindlichen Bestrebungen entgegenwirkt. Es ist also wieder eine Facharbeit, die auf Kreis- und Balkendiagrame hinausläuft. Beinahe. Wären da nicht einige interessante Ergebnisse, die man so nicht erwarten würde. Wer meint, dass sexistische oder rassistische Sprüche eher im Schützenverein zu hören wären, oder dass Gewerkschaften doch nur politisch links von Interesse wären, liegt falsch. Vor allen Dingen das Resumé am Ende des Buches zeigt klar und deutlich, wie man rechten Einfluss aus Verbänden fern hält.
Die Angabe der Herausgeber weist schon darauf hin, dass das Buch eine Zusammenfassung von Beiträgen unterschiedlichster Autoren ist. Genauer handelt es sich um Beiträge, deren Ausgangspunkt in der Tagung «Die neue Mitte? Rechte Ideologien und Bewegungen in Europa» liegt, veranstaltet vom Deutschen Hygiene-Museum in Dresden im September 2018. In diesem Sinne nur eine Übersicht. Erhältlich ist das Buch über die Bundeszentrale für politische Bildung. Es erfasst ein sehr breites Spektrum an Untersuchungen und Analysen zu den vielen Aspekten des Rechtsextremismus, wie Ideen und Ideologien, Akteure, praktische Kritik extrem rechter Milieus, kommunikative Strukturen und Gegenstrategien. Zuerst scheint ein Widerspruch zwischen Titel und Inhalt zu bestehen, doch das täuscht. Die Frage, was und wo denn eigentlich die jeweils politische und gesellschaftliche Mitte in Europa liegt, ist ein zentrales Thema. Praktisch alle Beiträge gehen auf die Frage ein, wie Rechtspopulisten und Rechtsextreme versuchen, sich zu dieser Mitte zu machen, es geht um Verschiebung von Meinungen und dem, was gesagt werden darf, und was nicht. Es geht um Diskurshoheit. Weiterer Fokus liegt auf den Strategien der Neuen Rechten, wie sie schon früh Medien für sich in Anspruch nahmen, sogar schon vor dem World Wide Web das Usenet für ihre Vernetzung nutzten. Es würde zu weit führen, diese vielen Beiträge im Einzelnen darstellen zu wollen. So kann ich eigentlich nur die Lektüre des Buches empfehlen, wenn man an einer wirklich detaillierten Darstellung der vielen Seiten des Rechtextremismus interessiert ist. Auch wenn einzelne Beiträge sehr fachlich orientiert sind. Zum Glück die meisten eben nicht. Wie der über die Situation in der Stadt Bautzen.
Spätestens seit den PEGIDA-Aufmärschen in Dresden kursiert der Begriff der Lügenpresse wieder. Die Medien und die Politik würden unter einer Decke stecken, als Repräsentanten der "Eliten". Doch was ist dran an den Diskussionen, die Medien würden kein Vertrauen mehr verdienen, seien korrupt und würden die Wahrheit verschweigen? Glaubt tatsächlich eine Mehrheit in Deutschland an diese Zuschreibungen? Die Mainzer Langzeitstudie zu diesen Fragen beschäftigt sich genau mit diesem Thema des Medienvertrauens. Doch wenn man "Medien" sagt, kann man viele Ausprägungen meinen. Öffentlich-rechtlicher Rundfunk, etablierte Presse, Boulevard wie BILD und BUNTE, privates Fernsehen bis hin zu Sozialen Medien und den sogenannten Alternativen Medien a'la «Compact» und «KenFM». Welche davon für vertrauenswürdig gehalten werden, hängt von mehreren Faktoren ab, angefangen von der eigenen politischen Position, der privaten wirtschaftlichen Lage, den persönlichen Zukunftsaussichten bis zur jeweiligen Alterskohorte. Doch ist von einer Studie die Rede, nicht von einer redaktionellen Abarbeitung am Thema. Also mal wieder Zahlen und Fakten, Balken- und Liniendiagramme. Doch zum Glück nicht nur.
Manchmal gibt es Zufälle, die keine wirklichen Zufälle sind. Dieser Zufall war die Bestellung zweier Bücher in meiner örtlichen Buchhandlung. Beide zusammen führten am Ende zu einem anderen eigenen Bild der west-ost-deutschen Befindlichkeit. Das erste geschrieben von einem Westdeutschen 1990 bis 1991 in Dresden, das andere von einem Ostdeutschen in Ostdeutschland 2023. Ich habe als Untertitel "Eine Streitschrift" gewählt. Denn der Text ist in der Tat zornig, doch Streit sucht der Autor nicht. Dirk Oschmann hatte in der FAZ einen Gastbeitrag geschrieben, dass der Westen sich einen Osten nach eigenem Gutdünken zusammen erfindet. Wonach der Osten immer rückständig, unflexibel, faul, demokratieunfähig und undankbar ist. Während Bayern und Rheinländer stolz auf ihren Dialekt sind, gilt Sächsisch als komisch bis nervig. Der Westen sei eben das "Normale", der Osten die Ausnahme. Weshalb der Westen sagen müsse, wo es lang geht und was das Beste für den Osten sei. Diese Sicht ist keine Ausnahme, viele Bücher und Studien, auch eben «Das letzte Jahr» von Martin Gross zeigt, wie der Westen den Osten übernahm. Als Erstes kamen der Einzelhandel und die Baumärkte, dann die westlichen Köpfe der Verwaltungen, der Politik und der Hochschulen. Wie es so schön heißt, der Westen wollte den Osten für den Umsatz und die Gewinne, als billiges Produktionsgebiet bei niedrigen Löhnen. Die Menschen waren nicht erwünscht. Aber was ist das nun eigentlich genauer, "der Osten"?
Gehe ich in meinen Erinnerungen 50 oder mehr Jahre zurück, in die Zeit des Wirtschaftswunders und in den Siebzigern in die Modernisierung der Bundesrepublik, tauchen viele Fragen auf. Selbst in der späteren Phase war die Welt um mich herum, im Vergleich zu heute, eher homogen. Zwar wählte mein Vater SPD und ein Onkel CDU, aber vor dem Haus standen ein Kommunist und ein Erzkonservativer noch beieinander und diskutierten. Inzwischen ist die Atmosphäre frostiger geworden, oder, wie man so sagt, die Gesellschaft ist stark ausdifferenziert. Doch auch das Verhältnis der Menschen zum Staat hat sich stark verändert. Behörden, Regierung und Kommunen, leider auch zivile Dienste wie Polizei, Feuerwehr oder sogar Sanitäter, werden nicht selten mit Argwohn betrachtet. Wenn nicht sogar, wie Anfang Januar 2023 in Berlin, angegriffen, beschimpft, verspottet. Nicht wenige Bürgerinnen und Bürger sehen "den Staat" als einen Lieferanten, der ihnen das Gewünschte und Bestellte zügig liefert, aber ansonsten möglichst keine Ansprüche an sie stellt. Freiheit wird überwiegend als negative Freiheit gesehen, als "Freiheit von". Bloß keine Verbote und Einschränkungen, bloß kein Tempolimit. Heidenreich nennt es die Ökonomisierung des Staates, gepaart mit einer Infantilisierung. Ein wirklich demokratischer Staat muss an seine Mitglieder, auf allen Ebenen, Ansprüche stellen. Dass diese Zumutungen wie Wahlen, Bürgerbeteiligungen bis hin zu Wehrpflicht und Freiwilligem Sozialen Jahr mehr sind als hinderliche Pflichtübungen, gleichzeitig Privilegien sind, ist vergessen. Dabei geht es anders, wie Heidenreich mit Beispielen aus der Schweiz, aus Irland und Kanada zeigt. Wenn wir die Demokratie in Deutschland erhalten wollen, brauchen wir ein anderes Verständnis von Bürgertum. Und müssen wieder mehr Zumutungen wagen.
Die Brandanschläge auf Häuser türkischstämmiger Bewohner in Mölln und Solingen, dazu die pogromartigen Überfälle auf ausländische Arbeitskräfte und Flüchtlinge in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, sind Teil bundesdeutscher Geschichte. Doch waren diese Geschehnisse nur Highlights rechtsextremen und fremdenfeindlichen Terrors. Die wahren Verhältnisse sind weitgehend vergessen. Zwischen September 1991 und Juli 1993 registrierten die Behörden mehr als 1.200 Brandanschläge auf von Ausländern und Flüchtlingen bewohnte Häuser. Hinzu kamen rund 2.700 schwere Körperverletzungen aus fremdenfeindlichen Motiven. Kaum erfasst wurden die kleinen Tätlichkeiten und Beleidigungen, die für viele Menschen Alltag waren, die nicht "deutsch" aussahen. Seit 1993 ist die Zahl der Brandanschläge und schweren Ausschreitungen deutlich zurück gegangen. Die Zahl der Angriffe auf subjektiv nichtdeutsche Personen stabilisierte sich dagegen auf hohem Niveau. Till Kössler und Janosch Steuwer haben einen Band heraus gegeben, der 22 Beiträge zur rechtextremen bis nationalsozialistischen Geschichte in Deutschland seit Ende des zweiten Weltkrieges bis in die späten Neunziger zusammenfasst. Wie üblich, wenn man hinter die Oberflächlichkeiten alltäglicher Nachrichten schaut, zerlegen die Zahlen und Fakten viele gewohnte Stereotype. Weder ist die rechte Gewalt ein ostdeutsches Phänomen, noch war der Westen in der Zeit nach der Wiedervereinigung und davor ein demokratisches Musterland. Man sollte zum Beispiel nicht vergessen, dass die größten rechten Hetzer der AfD wie Björn Höcke aus Hessen und Andreas Kalbitz aus München stammen. Hat der Westen also den Rechtsextremismus erst in den Osten exportiert?
Lilian Thuram ist weder Soziologe noch Politikwissenschaftler, kein Historiker und kein Philosoph. Er ist ehemaliger Profifußballer, hat in Italien und vor allen Dingen in Frankreich gespielt. Und Thuram ist schwarz, auf Guadeloupe geboren, bezeichnet jedoch Frankreich als seine Heimat. Bekannt ist er dort für sein Engagement gegen Rassismus und der resultierenden Ausgrenzung. In «Das weiße Denken» geht er ein nicht einfaches Thema an, dem man sich als Weißer mit einiger Mühe in der Sicht des Autors nähern muss. Es geht um internalisiertes Denken, um Denkschemata, die fast alle Menschen von klein auf lernen, und ihre Entstehung vergessen haben. Gerade die Majorität der westlichen Gesellschaft kennt mehr oder minder die Stereotypen. Dass Weiße die "besseren" Menschen sind, intelligenter, gebildeter, friedlicher, aufgeklärter. Schwarze dagegen werden nicht selten als minderbemittelt, gewalttätig und bildungsfern gesehen. Nicht immer und überall in gleichem Ausmaß, aber mit einer vergleichbaren Tendenz. Das ist jedoch nicht das einzige Denkschema. Das andere lautet: Männer sind stärker, intelligenter, einfach die Herren der Welt. Frauen weich, emotional, nicht durchsetzungsfähig. Es geht Thuram aber nicht darum, dieses stereotypische Denken anzuprangern oder irgendwelche Schuld zu verteilen. Er fragt viel mehr danach, woher diese Zuschreibungen für weiße und nicht-weiße Menschen stammen, denn statt Schwarze und Frauen kann man auch Juden und Jüdinnen oder asiatische Menschen nennen. Immer wieder geht es um Zuschreibungen, speziell hier jedoch, dass weiße Menschen die Welt und den Rest der Menschheit nur aus ihrer weißen Sicht wahrnehmen, und sich oft ihrer Verzerrungen der Wirklichkeit nicht bewusst sind.
Ein paar Quizfragen zum Einstieg. Was ist der Unterschied zwischen einem einfachen und einem konstruktiven Misstrauensantrag? Welches Bundesland hatte mal zwei Kammern, den Landtag und den Senat? Bis der Senat 1992 durch Volksentscheid als nicht demokratiekonform abgeschafft wurde. Warum ist der Bundesrat keine Kammer, und wie sind dort die Abstimmungsregeln? Insbesondere mit dem Hintergrund, dass es schon lange weder auf Bundes- noch auf Länderebene eine Regierung einer einzelnen Partei gibt. Und wie konstituiert sich eigentlich eine Kommune? Ich dachte immer, ich wüsste eine Menge darüber, wie die Bundesrepublik so funktioniert. Politisch strukturell, meine ich. Nach dem Lesen dieses Buches musste ich zugeben, dass ich eher wenig wusste. Frank Decker ist Politologe und Hochschullehrer. Daraus resultiert, dass dieses Buch über die deutsche Demokratie weder mit Meinungen noch mit Sichtweisen irgendetwas am Hut hat. Es geht streng wissenschaftlich zu. Aber nicht trocken. Schon gar nicht langweilig. Am Schluss versteht man dann, warum manche Dinge in Deutschland eben so sind, wie sie sind. Dass dahinter das Grundgesetz steht, oder weil es die Geschäftsordnung des Bundestages so vorschreibt. Doch damit nicht genug, man weiß auch mehr über die gravierenden Unterschiede zwischen der Weimarer Republik und der Berliner, ehemals Bonner Republik. Warum sie mit ihrer Verfassung so viel stabiler ist. In dem Buch geht es also um Fakten und Gesetze, was mich an ein Nachschlagewerk zur Physik in meinem Studium erinnert. Wie hieß es 1970 so schön in der Werbung: Achten Sie auf die Goldkante - es lohnt sich.
Wieder so ein Buch, das schwerlich in eine Kategorie zu bekommen ist. Tobias Ginsburg nimmt den Leser mit auf die Reise durch sein Spezialgebiet. Schlagende Verbindungen, Männerbünde, die den echten deutschen Mann retten wollen, Rapper aus dem rechten Spektrum, kleine Jungs, die auch gerne dazu gehören möchten. Überhaupt sind die studentischen Verbindungen mit ihren Ritualen aus Saufen und Pöbeln ein Hauptgebiet von Ginsburg, sowohl im Westen wie im Osten. Dann noch das Boss-Kapitel, über Kollegah, Kai und den Mainstream. Zum Schluss eine Reise in Polen, zum berüchtigten Thinktank Ordo Iuris, doch auch zu den Protestierenden in Warschau und an anderen Orten. Ginsburg tarnt sich bei seinen vielen Besuchen, passt sich an die Kulturen der rechten und rechtsextremen Kreise an. Spielt die üblen Spiele mit. Die Schilderungen der Menschen, denen er begegnet, lassen mich oft ratlos zurück. Denn was sie alle eint, von den Burschenschaftlern bis zu den aalglatten Direktoren der polnischen Netzwerke, ist Hass. Hass auf den Feminismus, auf Liberalität, auf Frauen, auf die Demokratie. Wenn man so will, ist das Buch eine Art Reisebericht. Der besonderen Art.
Von November bis Dezember 1972 kam ich für sechs Wochen zur Kinderkur nach Borkum. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind eher angenehm, freundliche und zugewandte Menschen, Bastelnachmittage, Ausflüge an den Strand und Aufhacken des steinhart gefrorenen Sandes in den Dünen. Nur wenig Heimweh, keine Sterneküche, aber auch kein schlechtes Essen. Nachmittags gab es Kakao und Kuchen. Ich hatte Glück gehabt. Viele andere Kinder nicht. Anja Röhl hatte selbst schlechte Erfahrungen als Verschickungskind gemacht. Sie entdeckte 2019 das Trauma der Verschickungskinder und machte es in der Öffentlichkeit sichtbar. So gründete sie als Betroffene im September 2019 einen Verein: «Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e. V.», dazu gibt es auch eine Website zur Vernetzung. In ihrem Buch geht es um die Geschehnisse in den Heimen von der Nordsee bis Berchtesgarden. Von denen sie erfuhr, als sie eine Website öffnete, wo sich Betroffene melden und ihre Geschichten erzählen konnten, die ihnen auf diesen Verschickungen passierten. Es geht um Misshandlungen, Prügel, Demütigungen, sexuellen Missbrauch bis hin zum Tod von Kindern. Wenn man diese Geschichten liest, denkt man, dass so etwas eigentlich undenkbar ist, doch es sind persönliche und authentische Schilderungen. Doch es ist nicht nur das Ziel öffentlich zu machen, was da im Namen von Gesundheit und Erholung den Kindern zustieß. Anja Röhl zeigt auch, dass die Folgen der NS-Ideologie und -Pädagogik noch lange über das Ende des zweiten Weltkrieges hinaus wirksam waren.
Gibt es "das" Judentum? So wenig, wie es "den" Islam oder "das" Christentum gibt. Man denke nur an die lange Liste unterschiedlicher christlicher Richtungen von altkatholisch, römisch-katholisch und griechisch-orthodox bis zu evangelisch und reformiert-lutherisch. So gab es auch im Judentum unterschiedliche Strömungen und Richtungen, die nicht immer friedlich ausdiskutiert wurden. Und doch gibt es einen Unterschied zwischen Muslimen, Christen und Juden. Also zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen. Nur die Juden wurden beinahe in ihrer ganzen Geschichte nicht nur als eine Religion betrachtet, sondern als eine Kultur, im großen Verlauf der Geschichte sogar als eine Rasse. Obwohl aktuell noch der letzte Dummbatz wissen sollte, dass es keine menschlichen Rassen gibt. So schließt sich dieses Buch beinahe an das zuletzt gelesene an. Ein Zufall, keine Absicht. Geschrieben hat es der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn, erschienen ist es schon 2022. Doch nicht immer ist ein Buch über Geschichte eine dröge Aufzählung von Daten und Fakten. Dieses Buch ist anders. Zwar ist der Kern eine historische Darstellung, doch sein Autor erlaubt es sich, auch seine persönlichen Kommentare und Interpretationen einzubringen. Natürlich optisch und layouttechnisch abgesetzt. Das hat den Vorteil, dass es deutlich lebendiger wird und auch Blicke hinter die historischen Kulissen möglich sind. Dann hätte das Buch noch beinahe in meine Kategorie "angefangen und abgebrochen" Einzug gehalten. Doch wie schon bei anderen Büchern zuvor habe ich den Anfang mit langen Zähnen durchgehalten. Zum Glück.
Hamed Abdel-Samad ist ein streitbarer Mensch. Er hat sich sogar einmal getraut, auf einer AfD-Veranstaltung einen Vortrag zu halten. Gilt als großer Islam-Kritiker, hat eine Fatwa am Hals und steht unter ständigem Polizeischutz. Ich habe schon so einige Bücher von ihm durch, zum Beispiel «Aus Liebe zu Deutschland», «Der Untergang der islamischen Welt» oder «Mohamed». Doch ist Abdel-Samad Islam-Kritiker, kein Islam-Basher. Seine Kritik ist immer wohlbegründet, sachlich und vernünftig im Sinne der Aufklärung. «Islam – Eine kritische Geschichte» ist Anfang 2023 heraus gekommen. Es ist aber nicht eine Art Abrechnung mit dem Islam, es ist, wie das Schlüsselwort "Geschichte" anzeigt, eine mehr historische Betrachtung und Interpretation des Islams. Beginnt mit den historischen Grundlagen, der Entstehung des Korans, besser: des ersten Korans, geht vergleichsweise kurz an die Geschichte Mohameds, arbeitet sich danach weiter vor bis zum aktuellen Stand. Einen Schwerpunkt bilden speziell die nächsten Jahrhunderte nach Mohameds Tod, die Entstehung der verschiedenen Richtungen wie Sunniten und Schiiten, Ausbreitung der damals neuen Religion, die erst nur ein Glaube war. Wenn man eine Grundaussage heraus meißeln möchte, ist es die, dass der Islam den Übergang in die Moderne selbst verbaselt hat. Dass der Islam keine eigene Aufklärung zulassen konnte, trotz seiner Blütezeiten, in denen er eine tolerante und offene Religion war. Abdel-Samad erzählt, wie der Islam zu seiner Zeit von der Religion zum Machtinstrument wurde, mit dem die Eroberungen vom Indus bis nach Andalusien voran getrieben wurden, Identitätsstifter für die arabischen Staaten wurde. «Islam» ist also kein historisches Buch im eigentlichen Sinne, sondern eine Geschichte, die helfen soll zu verstehen, warum der Islam dort gelandet ist, wo er heute steht. Also eher im Abseits.
Inzwischen ein vertrautes Bild: Leute sitzen zusammen im Restaurant und wenigstens einige von ihnen wischen auf ihrem Smartphone herum. Anstatt miteinander zu reden. Doch auf "die jungen Leute" zu schimpfen, verengt das Bild. Auch RentnerInnen sitzen nicht mehr auf der Parkbank und füttern Tauben, sondern tippen auf die winzigen Bildschirme. Das Wort von der Smartphone-Sucht ist immer häufiger in den Medien zu hören, Wissenschaftler sprechen lieber von problematischer Internetnutzung. Doch die Wörter verschleiern die wirkliche Situation, niemand ist von dem technischen Gerät abhängig, auch nicht von dem Netzwerk auf Basis des Protokols TCP/IP. Es sind die sogenannten sozialen Medien, von Facebook und Twitter über Instagram bis hin zu Snapchat und Whatsapp, die die Aufmerksamkeit binden. Es gibt sogar schon Länder, in denen die Nutzung des Smartphones beim Überqueren von Straßen mit Strafe belegt ist. Darüber ist schon viel geschrieben worden, meistens ging es dann um Datenschutz oder den digitalen Kapitalismus. Christian Montag geht auf das Thema aus psychologischer Sicht ein. Was bewirkt, dass Menschen so geradezu süchtig nach Facebook und Whatsapp sind? Was sind die psychologischen Hintergründe und wie machen die Plattformkonzerne es, dass sie Menschen so binden? Und gibt es eine psychologische Veranlagung dazu, derart in den Fängen der digitalen Welt zu landen? Ja, ein Buch mit wissenschaftlichem Hintergrund. Doch der Autor ist sich seiner eigenen Schwächen sehr wohl bewusst. Was das Buch menschlicher macht.
Es gibt Fragen, auf die ich selbst nie kommen würde. Zum Beispiel die, ob die Menschen in den Städten und auf dem Land ihre Kreuzchen auf den Wahlzetteln an verschiedenen Stellen machen und warum. Spoiler alert: Es ist tatsächlich so. Nun wohne ich selbst auf dem Dorf, wenn auch in der Nähe zu einer Mittelstadt mit 130.000 Einwohnern. Aber wie viel Dorf ist mein Dorf eigentlich? Verglichen mit einem Dorf im Wendland, in der Lausitz oder im Bayrischen Wald ist unser Dorf recht bunt und gut ausgestattet. Ostwestfalen gehört sicher nicht zu den abgehängten Regionen, hier regiert vor allen Dingen die mittelständische Industrie. Vor meiner Haustür liegt Glasfaser, die drei Buslinien nach Paderborn, Büren und Salzkotten fahren im Stundentakt. Doch die landläufige Vorstellung von Land und Dorf ist anders. Und Dorf und Stadt sind unterschiedlich, in ihrem ökonomischen, kulturellen und politischen Selbstverständnis. Das war in den ersten drei Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg anders. Die Wahlergebnisse von CDU/CSU und SPD waren in Städten und Dörfern ähnlich hoch, beide Parteien waren noch Volksparteien. Inzwischen kränkelt selbst die CSU in den ländlichen Gebieten. In Sachsen eine ähnliche Entwicklung. Es gab aber vor den Achtzigern auch keine Grünen und keine AfD. Aber nicht nur das hat sich verändert. Auf dem Land gibt es kaum noch akzeptable Jobs, kaum noch Einkaufsmöglichkeiten. Die Städte, die urbanen Zentren, gelten deshalb als hip und anziehend. Die Gründe liegen nicht nur, aber zum Hauptteil in der Veränderung unserer Ökonomie und gesellschaftlichen Struktur. Wissensarbeiter und Kreative sind die neuen Helden, sie zieht es in die Städte, nicht aufs Land. Produziert wird nun in Asien oder Billiglohnländern. So verändert sich die Balance zwischen den beiden Polen, mit weitreichenden sozialen und politischen Auswirkungen.
Homo Sapiens ist das einzige Lebewesen auf der Erde, das der Sprache mächtig ist. Sein großer evolutionärer Vorteil, weil so Erfahrungen, Wissen und Informationen weitergegeben werden, an andere Menschen und gerade an seine Nachfahren. Doch es ist nicht die Sprache allein, was den Menschen ausmacht. Mittels Sprache kann der Mensch Geschichten erzählen, seien es wahre Begebenheiten, Mythen, Märchen, Phantasien und Lügen. Denn nach Geschichten, so El Ouassil und Karig, sind die Menschen geradezu süchtig. Aus gutem Grund, denn nur Geschichten helfen zu verstehen, Zusammenhänge zu erfassen und Begründungen zu finden, für möglichst alles, was Menschen umgibt. Noch mehr, brauchen die Menschen sogar kausale Zusammenhänge, suchen sie verzweifelt, wenn sie nicht offensichtlich sind. Götter, die Wetter, Naturkatastrophen und Schicksale bestimmen, Freunde und Feinde, die über Wohl und Wehe entscheiden. Doch gerade da liegt auch die Gefahr von Geschichten. Von der Begründung der Religionen über angebliche Erbfeindschaften bis hin zu Lügengebäuden wie die der Nationalsozialisten oder eines Donald Trump. Schon wieder so ein Brecher von Buch. Und wieder eines, das bis zum Ende spannend bleibt. Sogar erstaunliche Einsichten liefert. Auch zu sehen auf der Buchmesse Frankfurt.
Dass man Geschichte durchaus interessant, sogar spannend und unterhaltend darstellen kann, hatten schon Bücher wie «Acht Tage im Mai» oder «Februar 33» bewiesen. Nicht ohne Grund bezieht sich Michael Wildt in seinem Vorwort auf «Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts» vom Historiker und Erzähler Golo Mann, immer noch ein Highlight der historischen Literatur. Nicht als Vergleich, sondern um eine neue, oder weitere Art der Darstellung der unruhigen und unrühmlichen Zeit in diesem unserem Lande zu eröffnen. Vergleichen kann sich Wildt mit Mann allerdings in einem Fall, nämlich was den Umfang des Buches angeht. Ein ziemlich heftiges Bündel Papier, was der Preis bei der BPB gar nicht vermuten lässt. Mit solchen Schinken tue ich mich immer zuerst etwas schwer. Weil sie doch eine lange Konzentration abverlangen und den Weg zu weiteren Büchern eine Zeit lang blockieren. So musste ich einen ordentlichen Anlauf nehmen, bevor ich die ersten Seiten aufschlug. Schon im Vorwort kündigt Wildt jedoch an, ein anderes Herangehen an die Erzählung der Geschichte wählen zu wollen als andere Autoren. Vereinfacht gesagt, einmal eher gröber, andererseits detaillierter. Und in der Tat entpuppt sich Wildts Art der Annäherung an diese vielschichtige und spannende Zeit als hervorragendes Rezept. So dass das Buch gerne immer wieder nach leider notwendigen Pausen in die Hand genommen wird. Um beim Begriff Rezept zu bleiben: es mundet ausgesprochen gut.
Donald Trump erzählte einmal, der deutsche Golfer Bernhard Langer hätte ihm berichtet, wie er vor einem Wahllokal in den USA 2016 merkwürdige Vorgänge beobachtet habe. Dazu befragt, sagte Langer, dass er Trump niemals persönlich getroffen hätte. Zwar konnte Langer sich daran erinnern, mit Leuten über die Ungerechtigkeit des amerikanischen Wahlsystems gesprochen zu haben, aber niemals mit Donald Trump. Ein typisches Beispiel für Halbwahrheiten, denen sich Nicola Gess in ihrem Essay widmet. Wie der Name schon sagt, sind Halbwahrheiten keine Lügen. Stattdessen werden Fakten aus dem Zusammenhang gerissen, verfälscht oder in einen anderen Kontext gesetzt, so dann uminterpretiert. Der Unterschied mag marginal erscheinen, doch die Wirkung von Halbwahrheiten ist verheerend. Wie im Buch zu lesen, sind Halbwahrheiten gefährlicher als Lügen, weil nicht mehr klar erkennbar ist, was noch Fakt und was Fiktion. Das Thema hat jedoch in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung zugelegt, weil Identitäre, Rechtspopulisten bis hin zu Rechtsextremen diese Kommunikationsform ausgiebig nutzen. Weil die Wirkung von Halbwahrheiten umso größer ist, je stärker sie die schon vorhandenen Überzeugungen belegen. Wie auch immer bezeichnet, als Halbwahrheiten, alternative Fakten, oder als Bullshit.
Ich habe einen Moment nachdenken müssen, warum mir der Titel des Buches so bekannt vorkam. Es ist der verballhornte Name des Monty Python-Films »Die wunderbare Welt der Schwerkraft«. Mit Sketchen oder Satire hat das Buch jedoch nichts zu tun. Es erhebt nämlich den Anspruch, auch physikalisch und mathematisch wenig vorbelasteten Lesern den Wirkungskreis der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie vorzustellen. Es geht um Neutronensterne, Schwarze Löcher und weitere Phänomene wie Gravitationswellen. Kompetenz kann man Luciano Rezzolla bestimmt nicht absprechen. Der in Deutschland forschende und lehrende Astrophysiker gehörte zu den Ersten, denen es gelang, fotografische Bilder eines supermassiven Schwarzen Lochs zu erstellen. Wie das ging, ist im Buch ausführlich beschrieben. Nun hat Charlie Chaplin bei einem Pressetermin zu Albert Einstein gesagt, die Menschen liebten ihn, weil alle verstehen, was er macht. Während sie Einstein liebten, weil sie nichts von dem verstehen, was er macht. An diesem Punkt war ich auch, wollte aber immer gerne wissen, was Ereignishorizont, Raumzeit und Gravitation eigentlich sind. So war ich gespannt, ob das Buch hält, was der Autor verspricht.