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Lilian Thuram ist weder Soziologe noch Politikwissenschaftler, kein Historiker und kein Philosoph. Er ist ehemaliger Profifußballer, hat in Italien und vor allen Dingen in Frankreich gespielt. Und Thuram ist schwarz, auf Guadeloupe geboren, bezeichnet jedoch Frankreich als seine Heimat. Bekannt ist er dort für sein Engagement gegen Rassismus und der resultierenden Ausgrenzung. In «Das weiße Denken» geht er ein nicht einfaches Thema an, dem man sich als Weißer mit einiger Mühe in der Sicht des Autors nähern muss. Es geht um internalisiertes Denken, um Denkschemata, die fast alle Menschen von klein auf lernen, und ihre Entstehung vergessen haben. Gerade die Majorität der westlichen Gesellschaft kennt mehr oder minder die Stereotypen. Dass Weiße die „besseren“ Menschen sind, intelligenter, gebildeter, friedlicher, aufgeklärter. Schwarze dagegen werden nicht selten als minderbemittelt, gewalttätig und bildungsfern gesehen. Nicht immer und überall in gleichem Ausmaß, aber mit einer vergleichbaren Tendenz. Das ist jedoch nicht das einzige Denkschema. Das andere lautet: Männer sind stärker, intelligenter, einfach die Herren der Welt. Frauen weich, emotional, nicht durchsetzungsfähig. Es geht Thuram aber nicht darum, dieses stereotypische Denken anzuprangern oder irgendwelche Schuld zu verteilen. Er fragt viel mehr danach, woher diese Zuschreibungen für weiße und nicht-weiße Menschen stammen, denn statt Schwarze und Frauen kann man auch Juden und Jüdinnen oder asiatische Menschen nennen. Immer wieder geht es um Zuschreibungen, speziell hier jedoch, dass weiße Menschen die Welt und den Rest der Menschheit nur aus ihrer weißen Sicht wahrnehmen, und sich oft ihrer Verzerrungen der Wirklichkeit nicht bewusst sind.


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Ein paar Quizfragen zum Einstieg. Was ist der Unterschied zwischen einem einfachen und einem konstruktiven Misstrauensantrag? Welches Bundesland hatte mal zwei Kammern, den Landtag und den Senat? Bis der Senat 1992 durch Volksentscheid als nicht demokratiekonform abgeschafft wurde. Warum ist der Bundesrat keine Kammer, und wie sind dort die Abstimmungsregeln? Insbesondere mit dem Hintergrund, dass es schon lange weder auf Bundes- noch auf Länderebene eine Regierung einer einzelnen Partei gibt. Und wie konstituiert sich eigentlich eine Kommune? Ich dachte immer, ich wüsste eine Menge darüber, wie die Bundesrepublik so funktioniert. Politisch strukturell, meine ich. Nach dem Lesen dieses Buches musste ich zugeben, dass ich eher wenig wusste. Frank Decker ist Politologe und Hochschullehrer. Daraus resultiert, dass dieses Buch über die deutsche Demokratie weder mit Meinungen noch mit Sichtweisen irgendetwas am Hut hat. Es geht streng wissenschaftlich zu. Aber nicht trocken. Schon gar nicht langweilig. Am Schluss versteht man dann, warum manche Dinge in Deutschland eben so sind, wie sie sind. Dass dahinter das Grundgesetz steht, oder weil es die Geschäftsordnung des Bundestages so vorschreibt. Doch damit nicht genug, man weiß auch mehr über die gravierenden Unterschiede zwischen der Weimarer Republik und der Berliner, ehemals Bonner Republik. Warum sie mit ihrer Verfassung so viel stabiler ist. In dem Buch geht es also um Fakten und Gesetze, was mich an ein Nachschlagewerk zur Physik in meinem Studium erinnert. Wie hieß es 1970 so schön in der Werbung: Achten Sie auf die Goldkante – es lohnt sich.


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Wieder so ein Buch, das schwerlich in eine Kategorie zu bekommen ist. Tobias Ginsburg nimmt den Leser mit auf die Reise durch sein Spezialgebiet. Schlagende Verbindungen, Männerbünde, die den echten deutschen Mann retten wollen, Rapper aus dem rechten Spektrum, kleine Jungs, die auch gerne dazu gehören möchten. Überhaupt sind die studentischen Verbindungen mit ihren Ritualen aus Saufen und Pöbeln ein Hauptgebiet von Ginsburg, sowohl im Westen wie im Osten. Dann noch das Boss-Kapitel, über Kollegah, Kai und den Mainstream. Zum Schluss eine Reise in Polen, zum berüchtigten Thinktank Ordo Iuris, doch auch zu den Protestierenden in Warschau und an anderen Orten. Ginsburg tarnt sich bei seinen vielen Besuchen, passt sich an die Kulturen der rechten und rechtsextremen Kreise an. Spielt die üblen Spiele mit. Die Schilderungen der Menschen, denen er begegnet, lassen mich oft ratlos zurück. Denn was sie alle eint, von den Burschenschaftlern bis zu den aalglatten Direktoren der polnischen Netzwerke, ist Hass. Hass auf den Feminismus, auf Liberalität, auf Frauen, auf die Demokratie. Wenn man so will, ist das Buch eine Art Reisebericht. Der besonderen Art.

Tobias GinsburgWie gefährlich sind die Reichsbürger?


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Von November bis Dezember 1972 kam ich für sechs Wochen zur Kinderkur nach Borkum. Meine Erinnerungen an diese Zeit sind eher angenehm, freundliche und zugewandte Menschen, Bastelnachmittage, Ausflüge an den Strand und Aufhacken des steinhart gefrorenen Sandes in den Dünen. Nur wenig Heimweh, keine Sterneküche, aber auch kein schlechtes Essen.  Nachmittags gab es Kakao und Kuchen. Ich hatte Glück gehabt. Viele andere Kinder nicht. Anja Röhl hatte selbst schlechte Erfahrungen als Verschickungskind gemacht. Sie entdeckte 2019 das Trauma der Verschickungskinder und machte es in der Öffentlichkeit sichtbar. So gründete sie als Betroffene im September 2019 einen Verein: «Aufarbeitung und Erforschung Kinderverschickung e. V.», dazu gibt es auch eine Website zur Vernetzung. In ihrem Buch geht es um die Geschehnisse in den Heimen von der Nordsee bis Berchtesgarden. Von denen sie erfuhr, als sie eine Website öffnete, wo sich Betroffene melden und ihre Geschichten erzählen konnten, die ihnen auf diesen Verschickungen passierten. Es geht um Misshandlungen, Prügel, Demütigungen, sexuellen Missbrauch bis hin zum Tod von Kindern. Wenn man diese Geschichten liest, denkt man, dass so etwas eigentlich undenkbar ist, doch es sind persönliche und authentische Schilderungen. Doch es ist nicht nur das Ziel öffentlich zu machen, was da im Namen von Gesundheit und Erholung den Kindern zustieß. Anja Röhl zeigt auch, dass die Folgen der NS-Ideologie und -Pädagogik noch lange über das Ende des zweiten Weltkrieges hinaus wirksam waren.

Deutschlandfunk KulturGewalt und Demütigungen statt Ruhe und Erholung


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Gibt es "das" Judentum? So wenig, wie es "den" Islam oder "das" Christentum gibt. Man denke nur an die lange Liste unterschiedlicher christlicher Richtungen von altkatholisch, römisch-katholisch und griechisch-orthodox bis zu evangelisch und reformiert-lutherisch. So gab es auch im Judentum unterschiedliche Strömungen und Richtungen, die nicht immer friedlich ausdiskutiert wurden. Und doch gibt es einen Unterschied zwischen Muslimen, Christen und Juden. Also zwischen den drei monotheistischen Weltreligionen. Nur die Juden wurden beinahe in ihrer ganzen Geschichte nicht nur als eine Religion betrachtet, sondern als eine Kultur, im großen Verlauf der Geschichte sogar als eine Rasse. Obwohl aktuell noch der letzte Dummbatz wissen sollte, dass es keine menschlichen Rassen gibt. So schließt sich dieses Buch beinahe an das zuletzt gelesene an. Ein Zufall, keine Absicht. Geschrieben hat es der Historiker und Publizist Michael Wolffsohn, erschienen ist es schon 2022. Doch nicht immer ist ein Buch über Geschichte eine dröge Aufzählung von Daten und Fakten. Dieses Buch ist anders. Zwar ist der Kern eine historische Darstellung, doch sein Autor erlaubt es sich, auch seine persönlichen Kommentare und Interpretationen einzubringen. Natürlich optisch und layouttechnisch abgesetzt. Das hat den Vorteil, dass es deutlich lebendiger wird und auch Blicke hinter die historischen Kulissen möglich sind. Dann hätte das Buch noch beinahe in meine Kategorie "angefangen und abgebrochen" Einzug gehalten. Doch wie schon bei anderen Büchern zuvor habe ich den Anfang mit langen Zähnen durchgehalten. Zum Glück.

DeutschlandfunkHistoriker Michael Wolffsohn im Gespräch


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Hamed Abdel-Samad ist ein streitbarer Mensch. Er hat sich sogar einmal getraut, auf einer AfD-Veranstaltung einen Vortrag zu halten. Gilt als großer Islam-Kritiker, hat eine Fatwa am Hals und steht unter ständigem Polizeischutz. Ich habe schon so einige Bücher von ihm durch, zum Beispiel «Aus Liebe zu Deutschland», «Der Untergang der islamischen Welt» oder «Mohamed». Doch ist Abdel-Samad Islam-Kritiker, kein Islam-Basher. Seine Kritik ist immer wohlbegründet, sachlich und vernünftig im Sinne der Aufklärung. «Islam – Eine kritische Geschichte» ist Anfang 2023 heraus gekommen. Es ist aber nicht eine Art Abrechnung mit dem Islam, es ist, wie das Schlüsselwort "Geschichte" anzeigt, eine mehr historische Betrachtung und Interpretation des Islams. Beginnt mit den historischen Grundlagen, der Entstehung des Korans, besser: des ersten Korans, geht vergleichsweise kurz an die Geschichte Mohameds, arbeitet sich danach weiter vor bis zum aktuellen Stand. Einen Schwerpunkt bilden speziell die nächsten Jahrhunderte nach Mohameds Tod, die Entstehung der verschiedenen Richtungen wie Sunniten und Schiiten, Ausbreitung der damals neuen Religion, die erst nur ein Glaube war.  Wenn man eine Grundaussage heraus meißeln möchte, ist es die, dass der Islam den Übergang in die Moderne selbst verbaselt hat. Dass der Islam keine eigene Aufklärung zulassen konnte, trotz seiner Blütezeiten, in denen er eine tolerante und offene Religion war. Abdel-Samad erzählt, wie der Islam zu seiner Zeit von der Religion zum Machtinstrument wurde, mit dem die Eroberungen vom Indus bis nach Andalusien voran getrieben wurden, Identitätsstifter für die arabischen Staaten wurde. «Islam» ist also kein historisches Buch im eigentlichen Sinne, sondern eine Geschichte, die helfen soll zu verstehen, warum der Islam dort gelandet ist, wo er heute steht. Also eher im Abseits.

Hamed Abdel-SamadIslam


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Inzwischen ein vertrautes Bild: Leute sitzen zusammen im Restaurant und wenigstens einige von ihnen wischen auf ihrem Smartphone herum. Anstatt miteinander zu reden. Doch auf "die jungen Leute" zu schimpfen, verengt das Bild. Auch RentnerInnen sitzen nicht mehr auf der Parkbank und füttern Tauben, sondern tippen auf die winzigen Bildschirme. Das Wort von der Smartphone-Sucht ist immer häufiger in den Medien zu hören, Wissenschaftler sprechen lieber von problematischer Internetnutzung. Doch die Wörter verschleiern die wirkliche Situation, niemand ist von dem technischen Gerät abhängig, auch nicht von dem Netzwerk auf Basis des Protokols TCP/IP. Es sind die sogenannten sozialen Medien, von Facebook und Twitter über Instagram bis hin zu Snapchat und Whatsapp, die die Aufmerksamkeit binden. Es gibt sogar schon Länder, in denen die Nutzung des Smartphones beim Überqueren von Straßen mit Strafe belegt ist. Darüber ist schon viel geschrieben worden, meistens ging es dann um Datenschutz oder den digitalen Kapitalismus. Christian Montag geht auf das Thema aus psychologischer Sicht ein. Was bewirkt, dass Menschen so geradezu süchtig nach Facebook und Whatsapp sind? Was sind die psychologischen Hintergründe und wie machen die Plattformkonzerne es, dass sie Menschen so binden? Und gibt es eine psychologische Veranlagung dazu, derart in den Fängen der digitalen Welt zu landen? Ja, ein Buch mit wissenschaftlichem Hintergrund. Doch der Autor ist sich seiner eigenen Schwächen sehr wohl bewusst. Was das Buch menschlicher macht.

Christian Montag: Du gehörst uns!Netzwerke mit toxischen Nebenwirkungen


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Es gibt Fragen, auf die ich selbst nie kommen würde. Zum Beispiel die, ob die Menschen in den Städten und auf dem Land ihre Kreuzchen auf den Wahlzetteln an verschiedenen Stellen machen und warum. Spoiler alert: Es ist tatsächlich so. Nun wohne ich selbst auf dem Dorf, wenn auch in der Nähe zu einer Mittelstadt mit 130.000 Einwohnern. Aber wie viel Dorf ist mein Dorf eigentlich? Verglichen mit einem Dorf im Wendland, in der Lausitz oder im Bayrischen Wald ist unser Dorf recht bunt und gut ausgestattet. Ostwestfalen gehört sicher nicht zu den abgehängten Regionen, hier regiert vor allen Dingen die mittelständische Industrie. Vor meiner Haustür liegt Glasfaser, die drei Buslinien nach Paderborn, Büren und Salzkotten fahren im Stundentakt. Doch die landläufige Vorstellung von Land und Dorf ist anders. Und Dorf und Stadt sind unterschiedlich, in ihrem ökonomischen, kulturellen und politischen Selbstverständnis. Das war in den ersten drei Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg anders. Die Wahlergebnisse von CDU/CSU und SPD waren in Städten und Dörfern ähnlich hoch, beide Parteien waren noch Volksparteien. Inzwischen kränkelt selbst die CSU in den ländlichen Gebieten. In Sachsen eine ähnliche Entwicklung.  Es gab aber vor den Achtzigern auch keine Grünen und keine AfD. Aber nicht nur das hat sich verändert. Auf dem Land gibt es kaum noch akzeptable Jobs, kaum noch Einkaufsmöglichkeiten. Die Städte, die urbanen Zentren, gelten deshalb als hip und anziehend. Die Gründe liegen nicht nur, aber zum Hauptteil in der Veränderung unserer Ökonomie und gesellschaftlichen Struktur. Wissensarbeiter und Kreative sind die neuen Helden, sie zieht es in die Städte, nicht aufs Land. Produziert wird nun in Asien oder Billiglohnländern. So verändert sich die Balance zwischen den beiden Polen, mit weitreichenden sozialen und politischen Auswirkungen.

Deutschlandfunk KulturDer Konflikt zwischen Stadt und Land wächst


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Homo Sapiens ist das einzige Lebewesen auf der Erde, das der Sprache mächtig ist. Sein großer evolutionärer Vorteil, weil so Erfahrungen, Wissen und Informationen weitergegeben werden, an andere Menschen und gerade an seine Nachfahren. Doch es ist nicht die Sprache allein, was den Menschen ausmacht. Mittels Sprache kann der Mensch Geschichten erzählen, seien es wahre Begebenheiten, Mythen, Märchen, Phantasien und Lügen. Denn nach Geschichten, so El Ouassil und Karig, sind die Menschen geradezu süchtig. Aus gutem Grund, denn nur Geschichten helfen zu verstehen, Zusammenhänge zu erfassen und Begründungen zu finden, für möglichst alles, was Menschen umgibt. Noch mehr, brauchen die Menschen sogar kausale Zusammenhänge, suchen sie verzweifelt, wenn sie nicht offensichtlich sind. Götter, die Wetter, Naturkatastrophen und Schicksale bestimmen, Freunde und Feinde, die über Wohl und Wehe entscheiden. Doch gerade da liegt auch die Gefahr von Geschichten. Von der Begründung der Religionen über angebliche Erbfeindschaften bis hin zu Lügengebäuden wie die der Nationalsozialisten oder eines Donald Trump. Schon wieder so ein Brecher von Buch. Und wieder eines, das bis zum Ende spannend bleibt. Sogar erstaunliche Einsichten liefert. Auch zu sehen auf der Buchmesse Frankfurt.

Samira El Ouassil/Friedemann KarigErzählende Affen


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Dass man Geschichte durchaus interessant, sogar spannend und unterhaltend darstellen kann, hatten schon Bücher wie «Acht Tage im Mai» oder «Februar 33» bewiesen. Nicht ohne Grund bezieht sich Michael Wildt in seinem Vorwort auf «Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts» vom Historiker und Erzähler Golo Mann, immer noch ein Highlight der historischen Literatur. Nicht als Vergleich, sondern um eine neue, oder weitere Art der Darstellung der unruhigen und unrühmlichen Zeit in diesem unserem Lande zu eröffnen. Vergleichen kann sich Wildt mit Mann allerdings in einem Fall, nämlich was den Umfang des Buches angeht. Ein ziemlich heftiges Bündel Papier, was der Preis bei der BPB gar nicht vermuten lässt. Mit solchen Schinken tue ich mich immer zuerst etwas schwer. Weil sie doch eine lange Konzentration abverlangen und den Weg zu weiteren Büchern eine Zeit lang blockieren. So musste ich einen ordentlichen Anlauf nehmen, bevor ich die ersten Seiten aufschlug. Schon im Vorwort kündigt Wildt jedoch an, ein anderes Herangehen an die Erzählung der Geschichte wählen zu wollen als andere Autoren. Vereinfacht gesagt, einmal eher gröber, andererseits detaillierter. Und in der Tat entpuppt sich Wildts Art der Annäherung an diese vielschichtige und spannende Zeit als hervorragendes Rezept. So dass das Buch gerne immer wieder nach leider notwendigen Pausen in die Hand genommen wird. Um beim Begriff Rezept zu bleiben: es mundet ausgesprochen gut.

Michael WildtDie zerborstene Zeit


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Donald Trump erzählte einmal, der deutsche Golfer Bernhard Langer hätte ihm berichtet, wie er vor einem Wahllokal in den USA 2016 merkwürdige Vorgänge beobachtet habe. Dazu befragt, sagte Langer, dass er Trump niemals persönlich getroffen hätte. Zwar konnte Langer sich daran erinnern, mit Leuten über die Ungerechtigkeit des amerikanischen Wahlsystems gesprochen zu haben, aber niemals mit Donald Trump. Ein typisches Beispiel für Halbwahrheiten, denen sich Nicola Gess in ihrem Essay widmet. Wie der Name schon sagt, sind Halbwahrheiten keine Lügen. Stattdessen werden Fakten aus dem Zusammenhang gerissen, verfälscht oder in einen anderen Kontext gesetzt, so dann uminterpretiert. Der Unterschied mag marginal erscheinen, doch die Wirkung von Halbwahrheiten ist verheerend. Wie im Buch zu lesen, sind Halbwahrheiten gefährlicher als Lügen, weil nicht mehr klar erkennbar ist, was noch Fakt und was Fiktion. Das Thema hat jedoch in den letzten Jahren erheblich an Bedeutung zugelegt, weil Identitäre, Rechtspopulisten bis hin zu Rechtsextremen diese Kommunikationsform ausgiebig nutzen. Weil die Wirkung von Halbwahrheiten umso größer ist, je stärker sie die schon vorhandenen Überzeugungen belegen. Wie auch immer bezeichnet, als Halbwahrheiten, alternative Fakten, oder als Bullshit.


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Ich habe einen Moment nachdenken müssen, warum mir der Titel des Buches so bekannt vorkam. Es ist der verballhornte Name des Monty Python-Films »Die wunderbare Welt der Schwerkraft«. Mit Sketchen oder Satire hat das Buch jedoch nichts zu tun. Es erhebt nämlich den Anspruch, auch physikalisch und mathematisch wenig vorbelasteten Lesern den Wirkungskreis der Einsteinschen Allgemeinen Relativitätstheorie vorzustellen. Es geht um Neutronensterne, Schwarze Löcher und weitere Phänomene wie Gravitationswellen. Kompetenz kann man Luciano Rezzolla bestimmt nicht absprechen. Der in Deutschland forschende und lehrende Astrophysiker gehörte zu den Ersten, denen es gelang, fotografische Bilder eines supermassiven Schwarzen Lochs zu erstellen. Wie das ging, ist im Buch ausführlich beschrieben. Nun hat Charlie Chaplin bei einem Pressetermin zu Albert Einstein gesagt, die Menschen liebten ihn, weil alle verstehen, was er macht. Während sie Einstein liebten, weil sie nichts von dem verstehen, was er macht. An diesem Punkt war ich auch, wollte aber immer gerne wissen, was Ereignishorizont, Raumzeit und Gravitation eigentlich sind. So war ich gespannt, ob das Buch hält, was der Autor verspricht.


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Was mich bei Querdenkern, Impfgegnern und anderen Schwurblern am meisten auf die Palme bringt, ist das völlige naturwissenschaftliche und technische Unwissen. Da passen elektronische Schaltkreise mit mehreren Millimetern Kantenlänge durch Injektionsnadeln, die außen weniger als einen halben Millimeter dick sind. Ganz zu schweigen davon, wo die Schaltungen im Blut ihre Stromversorgung herbekommen. mRNA-Impfstoffe verändern angeblich die Erbanlagen. Wenn man eine flache Scheibe im Weltall platzieren würde, wäre davon nach absehbarer Zeit eh nur noch eine Kugel da, weil physikalische Kräfte wie die Gravitation nun mal so wirken. Erst recht stutzig machte mich die Feststellung, dass mir Querdenker in Großbritannien oder den Niederlanden nicht aufgefallen sind. Also ein deutsches Phänomen? In gewisser Weise ja, sagt Ernst Peter Fischer in seinem aktuellen Buch. Die naturwissenschaftliche Bildung eines großen Teils der deutschsprachigen Gesellschaft sei praktisch nicht vorhanden, damit kann auch technisches Wissen nicht funktionieren. Millionen Leute wischen auf ihren Smartphones herum, ohne nur eine Spur von Ahnung darüber, was in der Schachtel passiert, und wie und warum. Je komplexer Technik wird, umso mehr erscheint sie als Mysterium. Auf dieser Grundlage grassieren dann Verschwörungstheorien, Mythen und Unsinn wie Schimmelpilze. Aber woher stammt diese Wissenschaftsfeindlichkeit, geradezu das Verlangen nach Unwissen und Inkompetenz, besonders in den Naturwissenschaften? Da muss man dann mit Fischer mal einige Jahrzehnte in die Vergangenheit schauen.


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Die bestellten Bücher sind noch nicht in der Buchhandlung angekommen, also zur Überbrückung ein E-Book. Offen gestanden, kannte ich die beiden Autoren bisher gar nicht, was wohl an meinem homöopathischen Fernsehkonsum liegt. Inzwischen weiß ich, dass sie im Hauptberuf Kabarettistin sowie Journalist und Kabarettist sind, was mir im Nachhinein das Buch erklärt. Es ist also mehr Satire als Sachbuch. Nun darf Satire landläufig so ziemlich alles, also auch über ZeitgenossInnen herziehen, Geschichten überinterpretieren und Fakten zur Unterhaltung ein wenig verdrehen. Die Ziele sind nun jedoch mal nicht vorrangig Prominente oder Politiker, sondern die Menschen und Ereignisse unseres Alltags. Die merkwürdigen Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Menschen, Raucher, Autofahrer, Fleischesser, Jutta Ditfurth und Muslime, und weitere Entwicklungen der Neuzeit wie Influencer. Über all diese wird nun ein gewisser Hohn und Spott ausgekübelt. So stellte sich mir die Frage, was der Sinn darin sein könnte, was sich Gruber und Hock wohl dabei gedacht haben, außer Unterhaltung zu liefern. Wie bei Satire üblich, bewegt man sich als Satiriker wie auch als Kabarettist auf einer schmalen Linie, wenn nicht gleich auf mehreren. Zwischen Klamauk und Humor, Sinn und Unsinn, zwischen Gesellschaftskritik und Besserwisserei. Was das Buch zu einem wechselhaften Genuss macht. Und doch, manche Fehlentwicklungen sind nicht zu leugnen.

Monika Gruber/Andreas HockUnd erlöse uns von den Blöden


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Was macht es mit einem, wenn man als liberaler Journalist seine gewohnten Medien, wie «Spiegel», «Süddeutsche Zeitung» und «Die Zeit», ignoriert und sich nur noch aus alternativen Medien informiert? Diesem Experiment unterzog sich Hans Demmel, indem er für sechs Monate nur bei KenFM, Compact oder Politically Incorrect las. Dazu sich in YouTube und Twitter in die Richtung der Querdenker und Corona-Leugner bewegte. Seine Frage war, ob diese geballte Portion an Desinformation, Falschmeldungen und Verschwörungstheorien seine Denkweise tatsächlich beeinflussen würde. Das Schlimmste befürchtend, holte er sich den Kollegen Friedrich Küppersbusch zur Seite, der gelegentlich über Demmel wachte. Ob da nicht etwas aus dem Ruder lief. Das Ergebnis ist eine Art Tagebuch, das Demmel über die Zeit geführt hat, was er wo gelesen hatte, wie ihn diese »Anderswelt«, wie auch das Buch heißt, beeinflusste. Das erwartbare Ende sei vorweg genommen. Es hat ihn nicht umgewandelt, hat ihn nicht von seinen liberalen, demokratischen Einstellungen abgebracht. Doch es hat trotzdem ein wichtiges Resultat gezeigt. Die Methoden, wie die alternativen Medien der Neurechten arbeiten, welche Methoden und Tricks sie anwenden. Und wie diese Leute zu denken und zu interpretieren pflegen.

Hans DemmelAnderswelt


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Da ich gerade einmal in diesem Thema bin, kann ich mir das nächste Buch gleich noch vornehmen. Nach Andreas Wirschings Deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts der Fokus nun auf die Zeit von 1933 bis 1945. Wobei ich mich mittlerweile immer mehr auf Geschichte konzentriere, weil sie erstaunlich viel Verständnis für die Gegenwart schafft. Eine Parallele zu Wirschings Buch bei Herbert ist die, dass auch er im Vorwort ausdrücklich erklärt, dass sein Buch keine detaillierte Darstellung ist. Es sollen die historischen Linien und Abläufe heraus gestellt werden, wie geschichtliche und politische Fäden aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts geradezu zwangsläufig in das Dritte Reich führten. Doch das streift Herbert nur am Anfang, bevor es in die tatsächliche Zeit vor und im Zweiten Weltkrieg geht. So lässt sich das Buch in zwei wesentliche Teile gliedern. Einmal den Weg aus der Weimarer Republik in die Nazidiktatur und ihre Methoden, danach die Zeit des Zweiten Weltkrieges. Wobei die Kriegszeit eindeutig den größeren Umfang beansprucht. Das wieder im Taschenbuchformat, für kleines Geld bei der BPB. Nun halte ich mich selbst für sowohl interessiert in als auch gut informiert über die Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland. Doch ich muss gestehen, dass in diesem – Verzeihung – Büchlein doch eine Menge mehr steckt als zuvor erwartet. Herbert schafft es, wirklich nur die historischen Linien heraus zu arbeiten, für ein überschauendes, doch trotzdem dichtes Bild zu sorgen.

Ulrich HerbertDas Dritte Reich


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An den Umfang des Wälzers von Golo Mann, "Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts" kommt Andreas Wirschings Buch nicht einmal annähernd heran. Soll es auch nicht. Wirschings Anspruch ist es, die Grundzüge der Entwicklung Deutschlands, politisch und sozial, vom Kaiserreich über Weimarer Republik bis zur Wiedervereinigung Deutschlands aufzuzeigen. Es geht also nicht um alle Details, alle Daten und eine Vielzahl von Beteiligten, sondern um ein Grundverständnis des deutschen Weges in die Moderne. Sozusagen ist es vergleichende Geschichte, die den nicht ganz so langen Weg beschreibt, bis Deutschland dort ankam, wo Nationen wie Frankreich und Großbritannien mit ihrer langen Vergangenheit, ihren Traditionen und Selbstgewissheiten halt zeitlich im Vorteil sind und waren. Nicht umsonst heißt das erste Kapitel des Buches "Ein deutscher Sonderweg in das 20. Jahrhundert?", mit einem Fragezeichen am Ende. Das Buch will ein grundsätzliches Verständnis dafür wecken, wie und warum Deutschland heute so und nicht anders aufgestellt ist. Dass die Gegenwart immer eine logische Konsequenz der Vergangenheit sein muss. Selbstverständlich ist Wirsching profunder Historiker, Interpretationen oder Vermutungen haben bei ihm nichts verloren, wissenschaftliche Fakten zählen. Und sind diese nicht oder noch nicht vorhanden, schreibt es das auch so. Ja, es ist ein wissenschaftliches Buch, trotzdem gut zu lesen, gut zu verstehen. Man fragt sich am Ende nur, was Reichsbürger, Rechtsradikale und Verschwörungstheoretiker da geraucht haben. Denn nicht ohne Grund ist das Buch bei der Bundeszentrale für politische Bildung erschienen. Wie üblich bei solchen Büchern, lesen es aber immer die Falschen.

Andreas WirschingDeutsche Geschichte im 20. Jahrhundert


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Buch ist für Franca Parianens Beitrag vielleicht nicht das richtige Wort. Büchlein trifft es eher. Dafür ist es mehr ein Essay als eine ausgesprochen breite Betrachtung. Sie widmet sich der Frage, warum das Teilen, und teilhaben lassen, in unserer westlichen Gesellschaft so ausgesprochen schwer geworden ist. Sie sieht diese Unfähigkeit als einen wichtigen Grund in der zunehmenden Ungleichheit und wirtschaftlichen Ungerechtigkeit im Verlauf des 20. Jahrhundert. Dazu geht sie zurück in die Anfänge des Homo Sapiens, der sich aufgrund einer speziellen genetischen Anlage dazu entschloss, gruppenübergreifend zu jagen, zu versorgen und zu pflegen. Und zu kommunizieren. Teilen galt jedoch nicht nur bei der Nahrung und dem Lebensraum als Vorteil, sondern besonders beim Wissen, bei Erfahrungen und handwerklichem Können. Die Fähigkeit, Wissen zu teilen, weiterzugeben und zu erweitern, war eines der Erfolgsgeheimnisse, warum sich Homo Sapiens gegenüber anderen Hominiden durchsetzen konnte. Teilen war überlebenswichtig. Bis zu der Zeit, als neoliberale Wirtschaftswissenschaftler den Homo Oeconomicus erfanden, der sich selbst immer am nächsten stand. Der nur auf seinen eigenen Gewinn und sein eigenes Fortkommen Wert legte. Doch die Wahrheit, so Parianen, ist eine andere. Der Mensch teilt aus vielen Gründen, aus Großzügigkeit, aus Mitleid oder auch aus ganz eigennützigen Gründen. Teilen heißt nicht verlieren, teilen kann den Gewinn sogar vergrößern. Mit diesem Startpunkt beschreibt Parianen eine ganz andere Gesellschaft, in der sich Preise aus dem Wert ableiten, nicht der Seltenheit oder dem Willen zu besitzen. Es ist eine Gesellschaft, in der CEOs von Aktiengesellschaften nicht das Tausendfache eines Arbeiters verdienen, in denen die Leute in den systemkritischen Aufgabenbereichen wie Handel, Sicherheit und Pflege das Geld bekommen, das sie wirklich verdienen. Ganz neu sind ihre Erkenntnisse nicht. Doch das Buch fasst noch einmal die wesentliche Argumente und historischen Hintergründe zusammen. Dazu sehr humorig und ansprechend geschrieben.

Franca ParianenTeilen und Haben

Informationen über Franca Parianen beim Rowohlt-Verlag.

Das Thema sollte doch inzwischen ausreichend durchgekaut sein. Irgendwann ist doch auch mal gut. Oder kann man dem Thema doch noch irgendwie neue Sichten, andere Aspekte beifügen? Habe ich mich vor der Leseprobe bei den Krautreportern selbst gefragt. Man könnte das Thema in der Tat abhaken, wenn es nur Vergangenheit wäre, aber noch immer sind viele der Schieflagen zwischen Ost und West nicht gerade gerückt. Noch immer sitzen in den Leitungspositionen der Unternehmen, Hochschulen und Medien fast nur westdeutsch sozialisierte Leute. Noch immer wird in Ostdeutschland weniger verdient als im Westen. Und noch immer ist von den Jammer-Ossis die Rede, wenn die Sprache auf die neuen Bundesländer kommt. Doch am schlimmsten ist, dass bei der ehemaligen DDR immer noch zuerst die Sprache auf Stasi, Trabbi, AfD und Bananenfreiheit kommt. Dabei ist Kühlungsborn anders als Wittenberg, und die Dresdener Neustadt erinnert mich eher an Kreuzberg. Stellt sich dazu die Frage, was denn »die DDR« gewesen sein soll. Die Menschen aus dem deutschen Osten gelten unverändert als rückständig, borniert und ein bisschen faul, sie hätten ja nie richtiges Arbeiten begriffen. Dass dieses Büchlein das wohl kaum ändern kann, leuchtet ein, doch Nicole Zepter möchte trotzdem aufzeigen, was da so schräg ist, warum Verständigung zwischen Düsseldorf und Leipzig noch immer ein schwieriges Unterfangen bleibt. Ich kann ihr da nur zustimmen, aus meinen eigenen Erfahrungen hier im Westen als häufiger Gast in Sachsen. Im Westen grassieren diese Meinungen und Stereotypen gerade bei den Leuten, die die Elbe noch nie in Richtung Osten überquert haben. Doch woher stammen diese Zuschreibungen?

Nicole ZepterWer lacht noch über Zonen-Gaby?


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Unsere Vorstellung vom Leben im Hoch- bis Spätmittelalter, die Zeit von ca. 1000 bis 1600 n. Chr.,  ist eher die eines erbärmlichen, ärmlichen Lebens. Menschen, die in Dreck und Unrat hausen, in einer grausamen und ungerechten Welt, geschlagen mit Krankheiten und frühem Tod, Folter und Hexenverfolgung. Leider von der Realität weit entfernt.  Das liegt zum großen Teil daran, dass sich Historiker eher mit Kriegen, dem Adel oder großen politischen Ereignissen beschäftigten als mit dem profanen Alltagsleben in dieser Zeit. Mit dem Studium alter Aufzeichnungen wie Gerichtsakten und Büchern früher Volksbanken, wie die Monti Pieta in Italien,  ließen sich keine großen Lorbeeren verdienen. Das hat sich in jüngster Zeit zum Glück geändert. Was erstaunliche Erkenntnisse zu Tage förderte. Es war eben kein finsteres Mittelalter, es gab Menschen, die in Armut lebten, hungerten und im Winter beinahe erfroren. Das war aber eher eine Ausnahme, nicht die Regel, viele Menschen im Mittelalter waren gesund, gut ernährt und lebten relativ komfortabel. Dabei wäre die Art und Weise, wie in der Zeit des Mittelalters gewirtschaftet wurde, wie frühe Wirtschaft und Gesellschaft überhaupt funktionierten, in unseren krisengeschüttelten Zeiten wieder mehr Aufmerksamkeit würdig. In ihrem Buch "Wir konnten auch anders" nimmt Annette Kehnel den Leser mit zurück ins Mittelalter, in die Vormoderne. Zeigt, dass wir gerade heute wieder von dieser Zeit lernen könnten, neue Wege zu finden, zu wirklicher Nachhaltigkeit zu kommen. Niemandem soll das Smartphone weggenommen werden, oder mit der Pferdekutsche zum Einkaufen fahren. Die Message sind Denk- und Handlungsweisen, die uns mit der ach so tollen Moderne verloren gegangen sind. Die Altvorderen haben anders gedacht. Und gehandelt.

Annette KehnelWir konnten auch anders


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